Grüne Denkanstöße für das Lernen von morgen
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Vorbemerkung zur Einordnung dieses Positionspapiers
Das Thema Bildung bewegt die Menschen und die politische Debatte in Hamburg seit Jahren. Die Politik hat sich von 2010 bis 2020 zehn Jahre Zeit gegeben, um im Rahmen des Hamburger „Schulfriedens“ jenseits großer Strukturreformen das Bildungssystem an die neuen Herausforderungen anzupassen. Zeit genug eigentlich, um Lösungsansätze für die brennendsten Fragen zu entwickeln: Wie gelingt ein gemeinsames Lernen aller Kinder in einem Schulsystem mit zwei Säulen? Wie gelingt es den Grund- und Stadtteilschulen, Inklusion und Leistungsanspruch miteinander zu verzahnen? Welche Rolle spielen die Gymnasien dabei? Was bedeuten die neuen Herausforderungen für die Gesundheitsförderung, gerechten Entlohnungssysteme und Teamstrukturen? Wie ist der Stand der selbst-verantworteten Schule? Wie kann die Qualität von Unterricht, Fortbildung und Schulentwicklung gesichert werden? Nach sechs Jahren stellen wir fest, dass viele Fragen noch ungeklärt sind, ja dass teilweise die Diskussionen nicht geführt werden.
Die Landesarbeitsgemeinschaft Bildung der Grünen Hamburg (LAG Bildung) hat deshalb einen internen Diskussionsprozess begonnen, der sich in drei Themenschwerpunkten, so genannten Clustern, diesen Fragen stellt.
- Cluster 1 „Lernen für alle“ (Frühjahr/Sommer 2016)
- Cluster II „Qualität in der selbstverantworteten Schule“ (Herbst/Winter 2016/2017)
- Cluster III „Arbeitsplatz Schule“ (Frühjahr/Sommer 2017)
Jedes Cluster-Thema wird im Rahmen von mehreren öffentlichen und internen Veranstaltungen ca. ein halbes Jahr debattiert. Dazu werden teilweise externe Expert*innen und Interessengruppen eingeladen. Die Ergebnisse des Diskussionsprozesses werden für jedes Cluster in Form eines von der Landesarbeitsgemeinschaft Bildung entwickelten Papiers vorgestellt. Die Ergebnisse werden nach Ab-schluss des Clusterprozesses aufbereitet und der Partei als Antrag auf einer Landesmitgliederversammlung zur Abstimmung gegeben.
Damit gibt dieses Positionspapier erst auf einen Teil der oben aufgeworfenen Fragen Antworten! Andere Themen wie die Schulstrukturdebatte, das Verhältnis von staatlicher Steuerung und Selbstverantwortung sowie das Qualitätsmanagement werden wir zum Beispiel nun im Cluster II bearbeiten und dann im Winter 2016/17 Lösungen vorschlagen. Im Cluster III beschäftigen uns dann unter anderem Arbeitsbedingungen an Schulen, wozu auch die Lehrerausbil-dung, das Lehrerarbeitszeitmodell und die Stärkung der Teamarbeit gehören. Unsere grünen Vorschläge hierzu unterbreiten wir voraussichtlich im Sommer 2017.
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I. Unsere Ziele: Gemeinsam lernen und leben
In Hamburg leben Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Interessen, Herkünften, Fähigkeiten und Möglichkeiten. Eine gute Schule muss Mittel und Wege bereitstellen, um allen Menschen die beste Bildung bei maximaler Chancengerechtigkeit zu ermöglichen. Dabei muss die Schule zum Kind pas-sen und nicht das Kind zur Schule.
Klar ist, dass nicht alle Kinder mit den gleichen Voraussetzungen in die Schule kommen. Es macht einen Unterschied, ob ein Kind aus Billstedt oder Blankenese kommt; ob die Eltern deutsch sind oder gerade erst als Geflüchtete in Hamburg angekommen sind; ob es mit allen fünf Sinnen gleichzeitig ler-nen kann oder mit einer Behinderung; ob ein allein erziehendes Elternteil sich um drei Kinder küm-mert oder ein Akademikerpaar ein Kind großzieht. All das macht einen Unterschied – sollte es aber nicht! Kinder sind unterschiedlich – die Bildungsangebote müssen ihnen folgen.
Inklusion stellt den Umgang mit Vielfalt in den Fokus schulischer Entwicklung. Inklusion ist kein stati-scher Zustand, sondern ein fortwährender Prozess mit der Zielsetzung der Maximierung von Teilha-be und der Minimierung von Benachteiligung und Diskriminierung.
Wir Grüne wollen, dass die Interessen und Möglichkeiten aller Kinder berücksichtigt werden, ob hochbegabt oder lernbehindert, ob mit ADHS oder Sprachproblemen, ob Mathe-Ass oder Sprachge-nie, Sporttalent oder künstlerisch begabt. Viele beeindruckende Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass eine gute Schule für alle möglich ist. Wir sind sicher, dass gute Schule, guter Unterricht und gute Inklusion direkt miteinander verbunden sind. Eine gute Schule ohne guten Unterricht gibt es nicht. Und ohne guten Unterricht gibt es keine gute Inklusion.
Wir sind davon überzeugt, dass es gelingen kann, Bildung für alle besser zu machen, ohne das System, die Kinder, die Pädagog*innen und alle anderen Mitglieder der multiprofessionellen Teams zu über-fordern. Wir sind davon überzeugt, dass die Aufgaben zu bewältigen sind, wenn sie endlich auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet werden und ausreichende Ressourcen dorthin gelangen, wo sie am sinnvollsten sind. Dies gelingt nur, wenn Schüler*innenvertreter*innen, Eltern, die multiprofessionel-len Teams, Pädagog*innen, Schulleitungen, Aus- und Fortbildungskräfte, Berater*innen, Politi-ker*innen und Fachverbände einbezogen werden und im Rahmen einer bildungspolitischen Plattform über den besten Weg diskutieren und Maßnahmen entwickeln, um das Ziel umzusetzen.
Wir Grüne haben diese Herausforderungen früh erkannt und in vielen Bundesländern Konzepte ent-wickelt und politisch umgesetzt, wo dies möglich war. Wir lassen uns von folgenden Prinzipien leiten:
1. Vom Aussortieren zur Inklusion
Differenzierte Lernorte: Früher gab es für verschiedene Bildungsziele unterschiedliche Schulen: Gymnasien für die vermeintlich Klugen, Realschulen für die vermeintlich Normalbegabten, Haupt-schulen für die vermeintlich praktisch Begabten, Förderschulen für die vermeintlich Lernschwachen und Sonderschulen für vermeintlich „Behinderte“ (wobei die Frage ist, wer hier wen behindert hat!). Alles schön aufgeräumt, so schien es. Diese Politik des Aussortierens hat große Bildungsungerechtig-keiten erzeugt, gesellschaftlich zu einer Trennung von Lerngruppen geführt, die sich im Berufs- und Privatleben weiter manifestiert und zu einer Spaltung der Gesellschaft beigetragen. Akademiker*innen bleiben oft unter sich, Menschen mit Behinderungen finden schwer in den ersten Arbeitsmarkt, Men-schen mit Migrationsgeschichte haben nur selten deutsche Freundeskreise usw. Diese Trennung von gesellschaftlichen Gruppen ist nicht nur ungerecht, sie kann in einer Bildungsgesellschaft, in der le-benslanges Lernen, fachübergreifende Betriebsabläufe und die Integration von Geflüchteten gefordert sind, keine hilfreichen Impulse geben. Wir möchten diese Trennung deshalb überwinden bzw. wenigs-ten verringern. Schule kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.
Differenzierter Unterricht: Schüler*innen werden nun nicht mehr aufgrund von Entscheidungen Anderer bereits frühzeitig in Bildungslaufbahnen gezwängt, aus denen sie nur schwer wieder heraus-kommen. Vielmehr entwickelt sich heutzutage die Schule um die Kinder und ihre Bildungsinteressen herum. Dies bedeutet allerdings auch eine deutlich erhöhte Anpassungsleistung der Pädagog*innen und natürlich auch der Schüler*innen. Und damit auch der Eltern und anderer mit Schule verbunde-nen Gruppen (Fachverbände, Jugendhilfeträger, Kliniken, Therapeut*innen usw.). Diese Anpassung hat zwar bereits begonnen (Fördern statt Wiederholen, vermehrt individualisierter Unterricht, neue individualisierte Rückmeldeformate und Zeugnisse), für eine gelungene Umsetzung sind jedoch weite-re Schritte dringend erforderlich.
2. Von der Quantität zur Qualität
Die Inklusionsdebatte in Hamburg wurde lange Zeit von der Frage bestimmt, wie viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf tatsächlich in den einzelnen Klassen sind. Mit dem Recht der El-tern, Kinder mit speziellen Förderbedarfen in der Regelschule anzumelden und dem damit verbunde-nen Abschmelzen der Förderschulen entstand eine hitzige Debatte darum, ob die Nachsteuerung der pädagogischen Ressource von den Förderschulen in die Grund- und Stadtteilschulen ausreichte. Während Schulpraktiker*innen deutlich mehr Ressourcen für die neuen Aufgaben forderten, verwies die zuständige Behörde lange auf – im bundesweiten Vergleich – hohe und somit „auskömmliche“ Mit-telzuweisungen. Mit der im Schuljahr 2014/2015 begonnenen Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in den Bereichen „Lernen, Sprache und emotionale-soziale Entwicklung (LSE)“ konn-ten der Diskussion erstmals konkrete Zahlen und Fakten aus Hamburg als Entscheidungsgrundlage hinzugefügt werden.
Wir Grüne sind davon überzeugt, dass die Debatte um Ressourcen allenfalls der Anfang einer zielge-richteten und langfristig wirksamen Inklusionsplanung sein kann. Inklusion kann nur gelingen, wenn sich die in Schule Aktiven auf gemeinsame Ziele, Lernformen, neue Teamstrukturen in professions-gemischten Teams, neue Formen des Feedbacks und Wege des Qualitätsmanagements einigen. Damit sagen wir auch deutlich: die Ressourcen sind noch nicht optimal verteilt, hier muss immer wieder im Sinne einer partizipativen Gesellschaft gemeinsam mit allen Beteiligten nachgesteuert und überprüft werden, ob genügend Ressourcen am richtigen Ort sind. Wir sind davon überzeugt: der beste Weg, allen Menschen die bestmögliche Bildung zu ermöglichen heißt, verschiedene bildungspolitische De-batten gemeinsam zu denken: Neue Lernkultur UND gerechte Ressourcenausstattung; eine Qualifi-zierungsoffensive für Leitungen und Pädagog*innen UND eine Überarbeitung des Lehrerarbeitszeit-modells; die Etablierung von Teamarbeit UND eine umfassende Ausstattungsreform für Grund- und Stadtteilschulen sowie für Gymnasien, die inklusiv arbeiten.
II. Sechs Jahre „Neue Lernkultur & Inklusion in Hamburg“ – Wo wir heute stehen
1. Ziele
„Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen. Sie werden dort gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbe-darf unterrichtet und besonders gefördert.“ Bereits 2010 hat die damals grün geführte Bildungsbehörde den §12 des Hamburgischen Schulgesetzes umfassend weiterentwickelt – lange bevor der Landesakti-onsplan 2012 vergleichbare Rechte für andere Lebensbereiche in Hamburg eingeführt hat. Mit einer umfänglichen Drucksache zur Inklusion1 wurde zudem ein bildungspolitischer Fahrplan für die Umset-zung der schulischen Inklusion auf politischer, administrativer und praktischer Ebene für das gesamte Schulsystem vorgestellt.
Grundlage hierfür war maßgeblich das Konzept „Neun macht klug!“, das die Hamburger Grünen in den Jahren zuvor entwickelt und abgestimmt haben.
2. Die ersten Erfolge
Unter grüner Führung wurden zwischen 2008 und 2010 viele grundlegende Reformen angeschoben, die teilweise auch schon 2006 von der Enquete-Kommission parteiübergreifend beschlossen worden waren. Auch ohne die Primarschule ist dies wohl die ehrgeizigste Schulreform der letzten Jahrzehnte in Deutschland. Bereits heute, 2016, haben sich viele Schulen und das Lernen in Hamburg im Ver-gleich mit 2008 grundlegend verändert. Zu den ersten Erfolge zählen die Neue Lernkultur mit Kom-petenzorientierung und Individualisierung sowie gemeinsamem Lernen, die Einführung des Zwei-Säulenmodells aus Gymnasium und Stadtteilschule mit (eigener) gymnasialer Oberstufe, den Einstieg in die Inklusion, den Ausbau der ganztägigen Bildung, eine systematisch und konsequent implemen-tierte Studien- und Berufsorientierung, die Umstrukturierung des Übergangs Schule – Beruf, der Ausbau der Produktionsschulen, der Aufbau regionaler Bildungslandschaften, Lernentwicklungsge-spräche und eine stärker am Kind orientierte individualisierte Rückmeldekultur, die weitgehende Ab-schaffung des Umschulens ab der 7. Klasse sowie die Einführung von Fördern statt Wiederholen.
3. Die Herausforderungen der Praxis
Die Umsetzung der Inklusion im Hamburger Schulwesen fordert heraus. Die „Drucksache Inklusion“ benennt diverse Maßnahmen, die für ein Gelingen erforderlich sind: Anpassung der Ressourcenzu-weisung für Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf; Änderung des Vorstellungsver-fahrens für Viereinhalbjährige; Überarbeitung des Anmeldeverfahrens für die Grundschulen, Stadtteil-schulen und Gymnasien; Erarbeitung einer Richtlinie zur Konkretisierung der Bildungspläne für Kin-der und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf; Einführung eines standortbezogenen Förderkonzepts für jede Schule; Neuaufstellung der Förderdiagnostik und Förderplanung; Förderko-ordinator*innen für jede Grund- und Stadtteilschule; Anpassung der Leistungsrückmeldungen mit Blick auf Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf; Umsteuerung der Schulbegleitung; Anpassung des Raumbedarfs und der Sachmittelausstattung; Einrichtung der Beratungsstelle Autismus und Gründung des Netzwerk Autismus; Stärkung der Inklusion im berufsbildenden Bereich, insbe-sondere durch Gründung der Jugendberufsagenturen; Einrichtung einer Ombudsstelle Inklusion; Gründung der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ); Bündelung der Kompetenzen der ehemaligen Förder- und Sprachheilschulen sowie der REBUS; Regelung der Inklusion für Schulen in freier Trägerschaft.
Wenngleich viele der genannten Maßnahmen ganz oder teilweise umgesetzt werden und es lokal teilweise sehr gute Arbeit gibt, muss festgestellt werden, dass die Inklusion in Hamburgs Schulen (noch) nicht flächendeckend ausreichend umgesetzt ist.
Die Probleme liegen auf der Hand:
- Zu frühe Wahl der Bildungswege:
Alle Kinder eines Jahrgangs besuchen die Grundschule, unabhängig von Leistungsstand oder sonderpädagogischen Förderbedarfen. Die Heterogenität der Grundschulklassen hat in den letzten Jahren zugenommen. Während für einige Schüler*innen in Klasse 4 die Entscheidung für die weiterführende Schule bereits feststeht, kommt diese Weichenstellung für andere Kinder deutlich zu früh. Viele Länder trennen deutlich später.
- Überlast der Stadtteilschulen
Stadteilschulen tragen mit über 90% der Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbe-darf den Großteil der Inklusion in den weiterführenden Schulen. Während einige Stadtteilschulen diese Herausforderung gut meistern, kommen insbesondere Schulen in Brennpunkten an ihre Belastungsgrenze, da die maximale Anzahl von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf teilweise überschritten wird und die Herausforderungen auch an anderer Stelle immens sind.
- Problematisches Umschulen von den Gymnasien
Jedes Jahr verlassen hamburgweit ca. 800 Schüler*innen zwischen der 5. und 7. Klasse das Gymnasium, weil sie mit den Anforderungen des Gymnasiums nicht mithalten können oder weil ihnen die verdichtete Art des Lernens nicht liegt. Für die Schüler*innen ist das häufig eine einschneidende und selbstwertbelastende Erfahrung. Auch für die Gymnasien ist dies ein Problem, weil sie bereits sozial eingebundene Mitglieder der Klassengemeinschaft verlieren, und für die Stadtteilschulen ist es schwierig, weil sie junge Menschen mit gebrochener Bildungsbiographie reintegrieren müssen, was häufig deutlich schwieriger ist, als wenn diese Schüler*innen von vornherein die Stadtteilschule gewählt hätten.
- Fehlendes Steuerungskonzept für die Unterstützersysteme
Während für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf teilweise extrem kleinteilige Regelungen für die Diagnostik und Förderplanung aufgestellt wurden, fehlen Vernetzungen zwischen den Unterstützersystemen. Das LI, die ReBBZ, das IfBQ, das HIBB und die Fachabteilungen der BSB bearbeiten Inklusion und Unterrichtsentwicklung teilweise ohne gemeinsame Absprachen. Es dürfen und müssen also Fragen gestellt werden, die über inhaltliche Aspekte hinaus auch strukturelle Fragen betreffen. Warum gibt es beispielsweise keine Abteilung in der BSB, in der diese Aufgaben fokussiert gebündelt werden?
III. Fünf Zutaten für gutes Lernen
1. UNTERRICHTSENTWICKLUNG: Auf dem Weg zum inklusiven Unterricht
Wir Grünen haben eine breite Auffassung von Inklusion. Für uns beschränkt sich Inklusion nicht auf Menschen mit Behinderungen, sondern ist die Antwort auf den Umgang mit Vielfalt an sich. Wir set-zen Inklusion gleich mit dem Prinzip „Vielfalt willkommen heißen“. Eine inklusive Schule kann nur wirklich gelingen, wenn die gesamte Schule den Unterricht konsequent weiterentwickelt – und dabei von außen unterstützt und begleitet wird und moderne Erkenntnisse der Neurowissenschaften und Lernpsychologie nutzt. In einem modernen Unterricht, der Heterogenität nicht als Hindernis, son-dern als Chance ansieht, stehen das einzelne Kind und seine individuellen Fähigkeiten im Mittelpunkt. In diesem Unterricht wird das Kind nicht vornehmlich mit anderen aus seinem Jahrgang oder seiner Klasse verglichen, sondern vor allem mit sich selbst. In einem inklusiven Unterricht werden Lernen und Potenzialentfaltung optimal ermöglicht – das heißt, dass ein im Lernen eingeschränktes Kind ge-nauso seine individuellen Bildungsziele erreichen können muss wie das hoch- oder teilleistungsbegab-te Kind. In einem inklusiven Unterricht wird dabei nicht nur die Fachkompetenz in den Blick genom-men, sondern auch die Selbst- und Sozialkompetenz. Diese Art von Unterricht macht Lust auf mehr: Kinder sollen ihre Neugier entfalten können – und nicht ständig gebremst werden. Gleichzeitig ist die Schule die Institution, in der unsere Gesellschaft ihre jungen Mitglieder befähigt, ein erfülltes Leben zu führen, ihren eigenen Lebensunterhalt durch einen Beruf zu bestreiten und am gesellschaftlichen Le-ben aktiv teilzuhaben. Der staatliche Bildungsauftrag von Schule umfasst deshalb auch Bildungsstan-dards, Durchsetzung der Schulpflicht etc. Gleichzeitig sind wir überzeugt, dass es an der Zeit ist, die Debatte stärker auf eine moderne, kindgerechte und inklusiven Unterrichtsentwicklung zu lenken.
Ein ermöglichender, inklusiver, auf Potenzialentfaltung ausgerichteter Unterricht ist höchst an-spruchsvoll und benötigt dabei drei Dinge: Zum einen bedarf diese Art des Unterrichts der Selbst-steuerung durch die Lernenden, damit Schüler*innen Gestalter*innen ihres eigenen Lernprozesses werden können. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn sie durch die dafür qualifizierten Lehrenden begleitet und in ihrem Prozess auch durch Beratung und Coaching unterstützt werden. Das erfordert ein positives Menschenbild von den Lehrenden („Jedes Kind kann eine Menge!“) aber auch das Ge-spür dafür, wann ein Kind mehr, wann es weniger Unterstützung braucht. Lernen verläuft nicht ge-radlinig und auch nicht immer im selben Tempo – das müssen Lehrende aushalten können. Schließlich benötigt der Unterricht einen Rahmen. Dies sind zum einen die Bildungspläne – denn Unterricht un-terliegt zu Recht dem Prinzip der Verbindlichkeit – aber im Kleinen die individuellen Bildungsziele der jeweiligen Kinder. Gerade diese Kinder benötigen mehr Anregung und die Möglichkeit einer längeren Lernzeit – oft langweilen sie sich im Unterricht und haben jahrelange Leidensgeschichten. Dies darf nicht sein, denn immer stehen das Kind und seine Entwicklung im Vordergrund.
Damit jedes Kind die nötige Unterstützung erfährt, bedarf es konsequent an jeder Schule eine*r För-derkoordinator*in, die*der die Klassenteams berät und gemeinsam mit den Lehrenden, den Eltern und den Lernenden besondere Maßnahmen – auch an außerschulischen Lernorten – plant und fest-legt. Ein inklusiver Unterricht ist zwar ein Unterricht, der das gemeinsame Lernen zum Prinzip hat – doch er ist nicht dogmatisch. Manchmal macht es Sinn, Kinder (zeitweise) in anderen Kontexten und Gruppen lernen zu lassen. Dies kann der Fall sein, wenn Kinder nicht in der Lage sind, mit anderen Kindern zusammen zu lernen – jedenfalls nicht über viele Stunden am Tag. Dies kann aber auch der Fall sein, wenn Kinder aufgrund von Teilleistungs- oder Hochbegabungen spezielle Angebote zusam-men mit anderen Kindern brauchen – oft auch an anderen Lernorten. Denn immer stehen das Kind und seine Entwicklung im Vordergrund.
Wir Grünen präferieren nicht eine bestimmte Unterrichtsform, denn jede Methode hat ihre Stärken und ihre Schwächen. Kompetente Lehrkräfte wissen genau, an welcher Stelle im Lernprozess welche Unterrichtsgestaltung die Kinder in ihrem Lernen am besten unterstützt und fordert. Ein sinnvoller Mix – zu dem gemeinsame genauso wie individualisierte Phasen gehören – ist in diesem Sinne erfolg-reicher und abwechslungsreicher als eine Monokultur. Leitend für die Unterrichtsgestaltung muss dabei stets der angestrebte Kompetenzzuwachs sein.
In einem modernen, inklusiven Unterricht werden die Kinder ihre Potenziale nur voll entfalten kön-nen, wenn sie prozessbegleitend lernförderliche Rückmeldungen erhalten. Ziffernzeugnisse als einzige Art der Rückmeldung zeigen dem Kind nicht ausreichend, wo es selbst steht – denn ein Ziffernzeug-nis vergleicht das Kind immer mit dem vermeintlichen „Standard“, nicht mit sich selbst. Daher halten wir es für richtig, auf Ziffernzeugnisse und Noten so weit wie möglich zu verzichten und stattdessen auf kompetenzorientierte Zeugnisse zu setzen. Nur dann kann das Kind bzw. können die Eltern se-hen, an welchen Stellen das Kind seine Potenziale noch entfalten kann und sollte.
Eine inklusive Schule gelingt besonders gut, wenn sie „Zeit für Mehr“ bietet – also eine ganztägig rhythmisierte Schule ist. Dies erfordert jedoch nicht nur ein kluges Ganztagskonzept mit einem guten Mix aus Entspannung und Anspannung, Ruhe und Bewegung, sondern auch „Raum für Mehr“, multi-professionelle Teams, die den ganzen Tag über da sind und eine hochwertige Essensversorgung. Wir halten die rhythmisierte Ganztagsschule der offenen und ganztägigen Bildung und Betreuung an Schu-len (GBS), in der viele Kinder nachmittags nicht mehr anwesend sind (insbesondere Kinder mit son-derpädagogischem Förderbedarf), für überlegen. Die Ablösung der GBS kann jedoch nur auf freiwilli-ger Basis gelingen. Wir wollen daher die rhythmisierten Schulen finanziell der bislang deutlich besser gestellten GBS angleichen und so attraktiver machen. Unser Plädoyer für einen gebundenen Ganztag darf dabei nicht als Absage an die Kooperation mit Jugendhilfe, Sportvereinen und anderen heutigen GBS-Trägern missverstanden werden. Schon heute zeigen mehrere Beispiele eindrücklich, wie sinn-voll, gut und systematisch gebundene Ganztagsschulen mit Trägern der Jugendhilfe kooperieren können.
Inklusiver Unterricht, bei dem auch beim zeitlichen Rahmen Flexibilisierung möglich sein muss (z. B. das schnellere Voranschreiten in einzelnen oder allen Fächern wie auch das längere Verweilen), kann unterschiedlich gestaltet werden. So können unter anderem gute Erfolge erzielt werden, wenn der Unterricht in jahrgangsübergreifenden Klassen organisiert ist. Dieses muss jedoch sehr gut ausgestal-tet werden, da es anspruchsvoll ist. Wir wollen daher Schulen besonders unterstützen, die jahrgangs-übergreifendes Lernen bereits praktizieren oder dahingehend umstellen wollen. Aber auch andere Möglichkeiten der Flexibilisierung wollen wir unterstützen.
Auch die Lehrenden brauchen in einem inklusiven Unterricht Unterstützung – dies nicht nur in Form von Professionalisierung, sondern in Form von Ressourcen für die Kinder. Wir setzen dabei auch weiterhin auf eine Mischung aus systemischer Ressource für Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Lernen und Sprache einerseits und kindbezogener Ressource für den sonderpädagogischen Förderbedarf in allen anderen Bereichen andererseits. Wir wollen dabei die Ressourcenvergabe für Kinder mit einer emotional-sozialen Entwicklungsstörung auf den Prüfstand stellen.
2. PERSONALENTWICKLUNG: Auf die Menschen kommt es an!
Der Schlüssel für das erfolgreiche Lernen der Schüler*innen liegt bei den Menschen, die sie darin un-terstützen, ihre Neugierde entfachen und ihren Wissendurst stillen helfen. Die Erkenntnis, dass Schu-le mit den Pädagog*innen steht und fällt, klingt zunächst banal. Doch mit dem Bild eines ganztägigen, kompetenzorientierten und inklusiven Unterrichts von morgen wandelt sich auch das Bild der Päda-gog*innen, die ihn gestalten. Und zwar so grundlegend, dass wir uns 2017 den Themen „Personal“ und „Arbeitsplatz Schule“ für ein ganzes Cluster widmen werden. Dazu wollen wir unsere Programmatik nicht völlig neu erfinden, sondern nur gründlich auf den Prüfstand stellen und weiter entwi-ckeln. Einiges ist aber schon heute klar:
- Haltung und Kompetenzen fördern: Schon in der Lehrerausbildung müssen die Lehr-kräfte auf die sich verändernden pädagogischen Realitäten und Anforderungen in der inklusi-ven Schule vorbereitet werden. Dabei geht es gleichermaßen um Haltung und Kompetenzen. Pädagog*innen, die schon im Beruf sind, sollen durch Fortbildungen, Beratung und Supervisi-on in ihrer professionellen Weiterentwicklung unterstützt werden. Dazu braucht es auch entsprechende Ressourcen.
- Rückmeldungen geben und einfordern. Nicht nur Schüler*innen benötigen eine indivi-duelle Begleitung und Förderung gemäß ihren Stärken, Schwächen und Interessen, zu der in-dividuelle Ziele und regelmäßige Reflexion und Feedback gehören; dieses sind auch integrale Bestandteile erfolgreicher Personalentwicklung, in der sich jede*r Einzelne durch ihre*seine Schulleitung gesehen, wertgeschätzt und gefördert fühlt. Hierzu gehören regelmäßige Perso-nalgespräche genauso wie (Schüler*innen!-)Feedback zum eigenen Unterricht.
- Die Auswahl der Lehrkräfte verbessern. Der große Teil der Pädagog*innen arbeitet in der Schule weil ihnen die Arbeit gefällt und sie sich dafür eignen. Der mittlerweile umfangrei-che Forschungsstand zum Thema Lehrereignung sagt uns allerdings auch, dass es einen klei-nen Prozentsatz gibt, der langfristig nicht für die Arbeit im Klassenraum richtig ist. Hier soll-ten wir erfolgreich erprobte Verfahren in Hamburg einführen, um die Schülerinnen und Schü-ler und die Kolleg*innen vor dieser Überforderung zu bewahren.
- Teams stark machen: Als Einzelkämpfer*in ist man den Anforderungen des Lehrerberufs heute nicht mehr gewachsen. Die Wende zur systematischen und verbindlichen Arbeit in multiprofessionellen Teams, in denen gemeinsam Unterricht, Beratung, Diagnose oder För-derung geplant, vorbereitet, teilweise auch durchgeführt und anschließend reflektiert und evaluiert wird, ist die große Revolution im Lehrerberuf unserer Zeit. Sie ist auch der ent-scheidende Hebel für Qualität in Schule. Schule muss Räume und Arbeitsplätze, Zeiten für Fallbesprechungen und Organisation sowie viele andere Voraussetzungen für erfolgreiche Teamarbeit schaffen. Denn differenzierter Unterricht auf mehreren Niveaustufen kann nur im Team vernünftig und curricular gehaltvoll entwickelt werden. Um den vielschichtigen Blick auf jedes Kind zu bewahren, arbeiten hier verschiedene Professionen wie Erzieher*innen, Lehr-kräfte, Sozialpädagog*innen, Sonderpädagog*innen und Therapeut*innen zusammen.
- Das Lehrerarbeitszeitmodell überprüfen: Um diese neuen Aufgaben erfüllen zu kön-nen, bedarf es einer grundlegenden Überarbeitung des Lehrerarbeitszeitmodells. Diese The-matik müssen wir gemeinsam mit der Lehrer*innenkammer wie auch mit den Gewerkschaf-ten klären.
3. SCHULENTWICKLUNG: Gute Schule braucht Freiheit und Qualitätsmanagement
Auch die Organisation Schule hat sich in den letzten zehn bis 20 Jahren so grundlegend gewandelt, dass wir uns dem Thema „Qualität in der Selbstverantworteten Schule“ im nächsten Cluster (ab Herbst 2016) eingehend und ausführlich widmen möchten. Schon heute ist klar, dass die Schulen …
- … vor sehr unterschiedlichen Herausforderungen stehen. Am deutlichsten wird diese Hete-rogenität neben den Grundschulen aktuell an den Stadtteilschulen, die je nach Geschichte, Schülerschaft, Größe und Reputation in der Region oft kaum vergleichbar sind. Deshalb be-nötigen sie auch individuelle und maßgeschneiderte Lösungen für ihre spezifischen Probleme und keine Schulentwicklung und keine Schulpolitik „von der Stange“. Das hat gra-vierende Folgen für die behördliche Steuerung und Begleitung von Entwicklung.
- … mehr Freiräume und Kompetenzen benötigen, um für ihre Schülerschaft das best-mögliche pädagogische Angebot maßschneidern zu können. Deshalb muss die Selbstverant-wortete Schule deutlich gestärkt und behördliche Vorgaben bis ins Detail auf das notwendige begrenzt werden. Experimentieren und ungewöhnliche Lösungen müssen erlaubt sein. Die Schulleitungen und die Kollegien benötigen dazu mehr Beinfreiheit. Die Einführung der Inklu-sion war 2010 eine völlig neue Herausforderung. Wir brauchen hier einen Wettbewerb der besten Lösungen, erfahrungsgesättigt und aus der Praxis.
- … die Qualität des Unterrichts und ihrer Arbeit noch stärker zum zentralen Maßstab ih-rer Arbeit machen sollten. Viel zu häufig werden in der Schulentwicklung nach außen hin gut sichtbare Strohfeuer abgefackelt, statt kontinuierlich, hartnäckig und nachhaltig an der Ver-besserung des Kerngeschäfts zu arbeiten. In der Entwicklung und Evaluation „qualitativ guten Unterrichts“ sollte die Meinung der Schüler*innen berücksichtigt werden. Sie werden noch viel zu wenig als Ressource der Schulgemeinschaft wahrgenommen.
- … starke Leitungen benötigen. Wir erwarten nicht nur viel von den Pädagog*innen, die inklusiven Unterricht gestalten; nein, gute Schulen brauchen Schulleitungen, die die Verant-wortung zur Gestaltung einer inklusiven Schule gemeinsam mit der Schulgemeinschaft gerne und professionell übernehmen. Dazu benötigen sie eine gute Qualifizierung, kontinuierliche Begleitung, angemessene Bezahlung, genügend Zeit, mehr Spielräume und vor allem: Vertrau-en und Rückenwind. Darüber hinaus müssen sie von administrativen Aufgaben weitestgehend durch Verwaltungsleitungen entlastet werden. Denn die wichtigste Aufgabe einer Schulleitung ist nicht das Ausfüllen von Statistikbögen, sondern Schul- und Unterrichtsentwicklung.
- … nur erfolgreich arbeiten können, gelingen, wenn alle Gruppen, also auch Schüler*innen und Eltern, das Schulleben und die Schulentwicklung mitgestalten. Eine inklusive Schule ist ei-ne demokratische Schule, in der Schüler*innen nicht nur lernen, ein glückliches und er-folgreiches Leben zu führen, sondern neben Verantwortung für sich auch Verantwortung für andere und die Gemeinschaft zu übernehmen.
4. UNTERSTÜTZUNGSSYSTEME: Gute Schule braucht Rückhalt
Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die nicht allein durch die Familien selbst, die Kitas und die Schulen geleistet werden kann und soll. Es macht allerdings Sinn, jene Einrichtungen mit Nachdruck auf Inklusion auszurichten, in denen alle Kinder ihre Bildungswege beginnen. Voraus-setzung hierfür ist, dass diese Institutionen befähigt werden, diese vielfältigen Aufgaben zielgerichtet umzusetzen.
Im Mittelpunkt der schulischen Inklusion stehen die pädagogischen Fachkräfte. Setzte sich das schuli-sche Personal früher nahezu ausschließlich aus Lehrkräften zusammen, die sich bei speziellen Fragen an außerschulische Expert*innen gewandt haben, sind die Expert*innen in der inklusiven Schule heute in das System integriert: Lehrkräfte, Sozial- und Sonderpädagog*innen, Erzieher*innen, Thera-peut*innen, Schulbegleitungen und andere unterstützen Schüler*innen individuell und die Schulen sys-tembezogen bei der Umsetzung.
Darüber hinaus bedarf es weiterer Unterstützung von außen. Nicht jede Schule kann die Expertise und das Personal für alle Förderbedarfe und neu geschaffenen Aufgabenfelder bereitstellen. Qualifi-zierung, Fachberatung, Therapie und Qualitätssicherung erfordern hervorragende Hilfesysteme, die allen Schulen zu Gute kommen.
In Hamburg sind diese Einrichtungen unter anderem das Institut für Lehrerbildung und Schulentwick-lung (LI), die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ), das Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IFBQ), spezielle Einrichtungen der Behörde für Schule und Berufsbildung selbst sowie weitere Anlaufstellen wie Kliniken und therapeutische Praxen.
Wenngleich diese Unterstützungseinrichtungen grundsätzlich in der Summe ein großes Leistungs-spektrum für Schulen anbieten, liegt keine zentrale Steuerung vor, die diese Angebote verzahnt und in einen auf die Anforderungen der Zukunft gerichteten Gesamtrahmen setzt. Wir sind überzeugt, dass gute Inklusion und guter Unterricht nur funktionieren können, wenn alle Akteur*innen bestmög-lich miteinander kooperieren und von der Politik dabei aktiv unterstützt werden.
Die verschiedenen Einrichtungen können auf Arbeitsebene viel enger zusammenarbeiten, beispielsweise: Entwicklung diagnostischer Standards zwischen BSB, LI und ReBBZ, Treffen der Förderkoordinator*innen mit Kliniken und therapeutischen Einrichtungen im Rahmen der Förderkoordinationstreffen, ein regelmäßiger Austausch zwischen den verschiedenen beratend-unterstützenden Stellen wie den Aufsichten, der Schulinspektion und der Agentur für Schulberatung, ein Evaluations-Workshop zu den integrativen und temporären Lerngruppen am LI mit ReBBZ, Trägern, Schulen unter Leitung des IFBQ, sind ein sinnvoller und machbarer Anfang.
5. POLITISCHE STEUERUNG: Fördern und Ermöglichen statt Bevormunden und Reglementieren
„Die Entlassung der Schulen aus der behördlich verschuldeten Unmündigkeit“ – das war anfangs ein-mal die schillernde Idee der Selbstverantworteten Schule (SVS). Und zu welchen Entwicklungsschü-ben und Qualitätssprüngen Schulen in der Lage sind, wenn die Politik mal die Leine der behördlichen Steuerung länger lässt, das haben viele der Schulen in dem Schulversuch „Selbstverantwortete Schu-le“ eindrücklich gezeigt. Doch die in den 2000er Jahren als Tiger gesprungene große Reform der Steuerungsphilosophie von Schule ist in vielen Bereichen heute schon längst als Bettvorleger gelandet. Und auch wenn viele Elemente wie die Personalauswahl durch die Schulen selbst erhalten geblieben sind, so müssen sich alle Regierungen seit 2008 kritisch fragen lassen, wie ernst sie es mit der Selbst-verantwortung wirklich gemeint haben:
- Bekommen die Schulen genügend Spielräume, gemäß den Besonderheiten ihrer Schülerschaft ein optimal abgestimmtes pädagogisches Konzept zu entwickeln oder bremsen zu enge be-hördliche Vorgaben die Kreativität vor Ort aus?
- Vertraut die Politik ausreichend der Kompetenz ihres hervorragend ausgebildeten und hoch-bezahlten Personals in den Schulen?
- Berücksichtigen die behördlichen Vorgaben genügend, dass es in den völlig unterschiedlichen Schulen nicht die Patentantwort auf ähnliche Probleme gibt, sondern es völlig unterschiedli-che Lösungen geben muss?
- Können Schulen angesichts der vielen behördlichen Vorgaben nur noch reagieren oder blei-ben ihnen noch genügend Freiräume um zu agieren und ein pädagogisch erfolgreiches Profil und Konzept zu entfalten?
IV. Unsere Vorschläge für ein individuelles, vielfältiges Lernen für alle
Wir Grüne stehen nach wie vor zu den Zielen und den Werten der mit „Neun macht klug“ angedachten und unter grüner Führung in den Jahren 2008 bis 2010 begonnenen Schulreform. Diese Reform ist noch voll in der Umsetzung. Einige Ziele sind erreicht und erste Erfolge zeichnen sich ab. An anderen Stellen besteht jedoch auch noch Nachsteuerungsbedarf, weil wir noch lange nicht am Ziel sind.
Ein modernes, gerechtes und anspruchsvolles Bildungsangebot hängt in erster Linie von guten inhaltlichen Angeboten und Maßnahmen ab. Für uns stehen daher die Themen Unterrichtsentwicklung, Personalentwicklung, Schulentwicklung, Unterstützersysteme und Steuerungsphilosophie in diesem Papier an vorderster Stelle.
Gleichzeitig ist aber auch zwingend notwendig, sechs Jahre nach Einführung der Stadtteilschule und der flächendeckenden Umsetzung der Inklusion zu fragen, was nach dem Ende des Schulfriedens 2020 kommen sollte bzw. welche strukturellen Nachsteuerungen erfolgreiche Bildungskarrieren unterstützen können.
Daraus leiten wir folgende politische Forderungen ab:
a) Strukturen verbessern
- Die Profilschule ist weiterführende Schule der Zukunft:
Wir streben an, dass zukünftig die Wahl der weiterführenden Schule nicht mehr davon abhängt, ob sie ein Gymnasium oder eine Stadtteilschule ist, sondern ob sie ein bestimmtes Profil aufweist, ein ausgewiesenes besonderes Schulprogramm hat und gute Arbeit leistet. Dies erfordert zugleich, eine Änderung des Anmeldeverfahrens im Schulgesetz. Zukünftig soll nicht mehr der Wohnort des Kindes entscheiden, sondern die Entscheidung der Eltern und der Kinder für ein bestimmtes pädagogisches Profil. - Lange Leine für selbstverantwortete Schulentwicklung:
Selbstverantwortete Schulen brauchen mehr pädagogische Freiheiten, um anders rhythmi-siert, epochal, projekthaft, fächerübergreifend und jahrgangsübergreifend zu arbeiten oder das Abitur im eigenen Tempo zu ermöglichen. Vor allem Schulen in Brennpunkten müssen die Erlaubnis bekommen, ganz anders pädagogisch profiliert zu arbeiten. - Pädagogische Profilierungen fördern:
Bisher haben sich noch zu wenige Schulen auf den Weg zu einer pädagogisch profilierten Schule gemacht. Wir wollen diesen Prozess befördern. Dazu gehört auch, dass alle Schulen pädagogische Antworten auf die Herausforderungen entwickeln, die die Inklusion von Schü-ler*innen mit besonderem Förderbedarf nach § 12 des Hamburgischen Schulgesetzes und Schüler*innen mit Fluchthintergrund beinhaltet. Pädagogisch profilierte Schulen benötigen die notwendige Ausstattung und Kompetenz. Wir halten in diesem Zusammenhang auch die Zu-weisung von spezifischen Ressourcen für die Erprobung innovativer Lernsettings an Einzel-schulen für wünschenswert. - Schulversuch „Bildungscampus“ einrichten:
Wir möchten die Vernetzung und die wissenschaftliche Begleitung von Schulen aktiv unter-stützen, die sich hier auf den Weg machen möchten, um enger zu kooperieren. Eine gezielte Unterstützung von Schulkooperationen selbstverantworteter Schulen unterschiedlicher Schulformen, Bildungshäusern, kreativen Modellen wie einem Polytechnikum und anderen engen Kooperationen von Bildungseinrichtungen im Rahmen eines Bildungscampus soll des-halb gefördert werden. Der Schulversuch soll deshalb die Chancen und Grenzen längeren gemeinsamen Lernens und der engen Kooperation von Bildungseinrichtungen überprüfen. - Übergänge in die weiterführenden Schulen verbessern:
Generell gehören alle Übergänge zwischen Grundschulen und weiterführenden Schulen noch einmal auf den Prüfstand und sollten verbessert werden. In diesem Zusammenhang sollte es die Möglichkeiten von gegenseitigen Hospitationen bei den Übergängen geben. Dies betrifft nicht nur die Kinder, sondern auch die Pädagog*innen und Eltern. Hierzu gehört unter ande-rem die Weiterentwicklung und Ausweitung von Hospitationsrunden für Kinder mit sonder-pädagogischem Förderbedarf beim Übergang in die weiterführende Schule.
In diesem Zusammenhang sollte auch die Bedeutung von Schullaufbahnempfehlungen über-prüft werden: Nach der Grundschule empfehlen die Klassenlehrkräfte der Grundschulen die weiterführende Schulform. Mit Gründung der Stadtteilschulen steht leistungsstarken Schü-ler*innen auch in dieser Schulform der Weg zum Abitur offen. Dieser sollte nicht durch schu-lische Empfehlungen behindert werden. Stattdessen könnten neue Zeugnisformate die Kom-petenzen von Schüler*innen so beschreiben, dass die weiterführenden Schulen den Übergang zwischen Grundschulen und weiterführenden Schulen in jedem Einzelfall besser unterstützen können. - Integriertes Konzept für Schüler*innen mit Fluchthintergrund
Mit der gestiegenen Anzahl von Geflüchteten, die aus Krieg und Verfolgung zu uns nach Hamburg kommen, wachsen auch die Herausforderungen für das Bildungssystem, diese Menschen aufzunehmen. Hamburg hat den Schüler*innen mit Fluchthintergrund frühzeitig und umfassend entsprechende Bildungsangebote machen können, tausende von ihnen lernen in Basisklassen oder Internationalen Vorbereitungsklassen, werden in den zentralen Aufnahmezentren beschult oder befinden sich bereits in einer berufsbildenden Schule. Darüber hinaus erhalten sie dieselbe Förderung und Unterstützung wie alle anderen auch. Durch die große Anzahl von Schüler*innen, die mit in das System aufgenommen werden, verändern sich die Gesamtrechnungen für Schüler*innenzahlen, Lehrer*innenstellen, Raum- und Baubedarf, Schüler*innenströme. Besondere Beachtung braucht hier die psychische Verfasstheit der Schüler*innen. Es bedarf dringend traumasensibler Kompetenz. - Inklusive Bildung an Gymnasien stärken:
Bisher haben sich nur wenige Gymnasien auf den Weg der Inklusion gemacht. Wir wollen diesen Prozess befördern und Hindernisse beseitigen. Alle Gymnasien müssen zumindest Schüler*innen mit Förderbedarf in der sozial-emotionalen Entwicklung, in der Sprache, im Sehen, im Hören und in der körperlichen Entwicklung beschulen. Dazu benötigen sie die notwendige Ausstattung und Kompetenz. - Inklusion optimieren
Die Bedingungen für das Gelingen von Inklusion müssen an jeder Schule stetig verbessert werden. Aus unserer Sicht müssen in diesem Zusammenhang zeitnah einige konkrete Maß-nahmen zur Unterstützung dieses Prozesses ergriffen werden:- Barrierefreiheit in Schulen gezielt weiter entwickeln und bei Baumaßnahmen be-rücksichtigen.
- Inklusion in die Berufsbildende Schulen Berufsbildende Schulen müssen für Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und emotionalen-sozialen Entwicklungsstörungen (LSE) Ressourcen erhalten. Außerdem benötigen die Pädagog*innen ausreichende Quali-fizierungen.
- Schulen in freier Trägerschaft Wir wollen Standards für die Inklusion in Schulen in freier Trägerschaft schaffen.
- Stellen in BildungsPflege-Kompetenz-Projekten für schwerst-Mehrfachbehinderte einrichten und angemessen ausstatten.
- Beirat Inklusion: Die angekündigte Gründung eines Beirats Inklusion ist bisher nicht erfolgt. Das wollen wir ändern.
b) Unterricht (weiter-)entwickeln
- Lernen im eigenen Tempo ermöglichen:
Wir möchten jahrgangsübergreifendes Lernen und das Lernen im eigenen Tempo stärken. Denkbar ist deshalb nicht nur G8 und G9, sondern auch G7 und G10, ja vielleicht auch G 8½. Hier möchten wir Modelle entwickeln. - Lernerfolge würdigen und Schüler*innen stärken:
Wir Grüne wollen die Alternativen zu Noten stärken und Schulen darin unterstützen, vor al-lem in den ersten Schuljahren den individuellen Lernfortschritt der Schüler*innen viel stärker in den Fokus der Lernbegleitung und Lernerfolgskontrolle zu stellen. Hierzu gehören kompe-tenzorientierte Zeugnisse und Rückmeldeformate, Portfolios sowie regelmäßige Feedbackge-spräche zum Lernfortschritt über die Lernentwicklungsgespräche hinaus. - Individualisierung fördern:
Wir sind nach wie vor von den Stärken der Individualisierung überzeugt, in der Schüler*innen mit unterschiedlichen Begabungen, Interessen und Leistungswillen gemeinsam lernen – teilweise im eigenen Tempo in Einzel- oder Gruppenarbeit, teilweise in der heterogenen Lern-gruppe gemeinsam. Deshalb werden wir entsprechende Unterrichtsformen weiter fördern. - Äußere Differenzierung ermöglichen:
In einzelnen Fällen kann im Interesse der Schüler*innen eine zeitweise Beschulung und Förde-rung in getrennten Lerngruppen sinnvoll sein. Das Konzept der integrativen und temporären Lerngruppen sollte extern evaluiert werden. - Digitale Kompetenz gezielt entwickeln: Angesichts der sich rasant verändernden Welt müssen Schulen ihren Teil dazu beitragen, die Digitale Kompetenz der Kinder und Jugendlichen gezielt weiterzuentwickeln. Dazu gehören neben dem adäquaten und selbstverständlichen Einsatz von Hard- und Software gerade auch Kompetenzen hinsichtlich der „Architektur“, die sich hinter der digitalen Welt verbirgt, wie etwa dem Verstehen von Algorithmen, dem Aufbau von Websites oder der Syntax einzelner Programmiersprachen.
- Förderkoordination in jeder Schule einrichten:
In jeder Schule bedarf es einer verbindlichen und ausreichend ausgestatteten Förderkoordi-nation. - Früher fördern:
Gerade in der Zeit vor der Schule durchlaufen Kinder zentrale Lernprozesse. Wir Grüne setzen uns deshalb für eine Stärkung und qualitative Verbesserung der frühkindlichen Bildung ein, um so früh wie möglich Basiskompetenzen zu stärken und Kinder früher zu fördern.
c) Personal stärken
- Das beste Personal für die schwierigsten Schulen:
Wir möchten über ein Anreizsystem nachdenken, bei dem die Schulen mit den schwierigsten Rahmenbedingungen mit sehr guten Pädagog*innen ausgestattet werden. - Haltung und Kompetenzen fördern:
Lehreraus- und fortbildung gehören auf den Prüfstand und müssen gemäß den neuen Anfor-derungen weiterentwickelt werden. - Personal entwickeln und begleiten:
Die Personalentwicklung durch die Schulleitungen muss verbessert werden, wozu die Schul-leitungen auch eine angemessene Qualifizierung und Ressourcen benötigen. - Teams stark machen:
Multiprofessionelle Teamarbeit ist der Schlüssel für Schulqualität. Schule muss Räume und Arbeitsplätze, Zeiten, Supervision und klare Erwartungen sowie viele andere Voraussetzun-gen für erfolgreiche Teamarbeit schaffen. - Lehrerarbeitszeitmodell überprüfen
- Das Lehrerarbeitszeitmodell ist veraltet und muss ergebnisoffen auf den Prüfstand.
- Fortbildungsoffensive zur Neuen Lernkultur:
Kollegien müssen sich gemeinsam auf den Weg machen können. Dafür benötigen sie die notwendigen Ressourcen, etwa in Form von Fortbildungstagen und Zeit für ihre Teament-wicklung. - Kollegiale Beratung:
Oft ist es für die persönliche Entwicklung förderlicher, eine Begleitung „auf Augenhöhe“ von einer*einem Kolleg*in zu bekommen als – hierarchisch – von außen oder oben. Daher wollen wir das Modell der kollegialen Beratung fördern.
d) Gute Unterstützung organisieren
- Das LI stärken
Mit einer klaren Ausrichtung auf die Erfordernisse eines lernförderlichen Unterrichts für alle Kinder und Jugendlichen liefert das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) in den Bereichen Ausbildung, Fortbildung und Beratung eine zielgerichtete Grundlage für die Umsetzung der Inklusion auf allen Ebenen. Aus der Praxis gibt es vielfach den Wunsch, die Schulen über Qualifizierung und Beratung hinaus insbesondere auch durch die Erstellung dif-ferenzierter Mustercurricula zu unterstützen. Das LI benötigt für diese Aufgaben mehr per-sonellen und finanziellen Spielraum, als ihm in den letzten Jahren im Rahmen der Sparauflagen möglich waren. - ReBBZ administrativ entlasten
Die ReBBZ müssen von den administrativen Aufgaben der Schulbegleitung entlastet werden, etwa durch die Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle, vergleichbar mit dem Verfahren für Schüler*innen mit körperlichen bzw. geistigen Förderbedarfen. - Schulpsychologie
In Hamburg existieren kaum Richtlinien für Schulpsychologie. Die Überarbeitung der Aufga-benbeschreibung für Schulpsycholog*innen, insbesondere in Hinblick auf ihre Aufgaben im Umgang mit psychisch belasteten und verhaltensauffälligen Schüler*innen sowie ihre Rolle in der Schnittstelle Schule – Therapie ist dringend erforderlich. - Kooperation mit klinischen Einrichtungen
Die Festschreibung von Standards für den Übergang zwischen klinisch-/therapeutischen Ein-richtungen und Schulen, um den Schüler*innen eine (Re-)Integration in den schulischen Alltag zu erleichtern und die Lehrkräfte dabei zu unterstützen. - Die Zukunft der Bildungsabteilungen der ReBBZ rechtzeitig klären
In Hamburg gibt es neben den Regelschulen aktuell (noch) die Möglichkeit, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bildungsabteilungen der ReBBZ zu beschulen. Es ist zu beobachten, dass die Bildungsabteilungen langsam kleiner werden, dass also immer mehr Kinder mit Förderbedarfen in der Grundschule bzw. der Stadtteilschule angemeldet werden. Dieses so genannte „Abschmelzen“ der Bildungsabteilungen geht zwar langsamer vonstatten als zu Beginn der Inklusion erwartet, dennoch müssen wir Klarheit herstellen, wie es mit den Bildungsabteilungen weitergehen soll. Einige Bildungsabteilungen verlieren jedes Jahr 5-10 Fachkräfte, Räume stehen leer, die Pädagog*nnen sind verunsichert, die Eltern teilweise auch. Wir müssen eine Debatte darüber führen, wo wir diesbezüglich in fünf Jahren stehen wollen: Sollen die Bildungsabteilungen erhalten bleiben (und somit eine Alternative zur Regelschule bieten)? Oder sollen die Ressourcen besser in Grund- und Stadtteilschule übergehen?
[1] Drs. 20/3641 vom 27.03.2012