Jetzt Zeichen setzen für mehr Demokratie: Bürger*innenräte in Hamburg auf Landes- und Bezirksebene

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Hintergrund

In den letzten Tagen und Wochen haben sich Hunderttausende Menschen in ganz Deutschland friedlich versammelt, um sich für den Erhalt der Demokratie und unser Grundgesetz einzusetzen, gegen eine autoritäre und menschenfeindliche Agenda radikaler rechtsgerichteter Gruppen.

Dieses deutliche Zeichen der Bürger*innen sollte von Seiten der Politik aufgegriffen werden und ein Mehr an Demokratie gewagt werden. Eine Chance dazu bieten Beteiligungsverfahren, in denen Menschen ihre Kompetenz einbringen, ihren Bedürfnissen Geltung verschaffen und sich mit anderen austauschen können.

Studien zeigen, dass das Mitwirken an Entscheidungsverfahren als gelebte demokratische Praxis empfunden wird und so wesentlich zu einer Stärkung der Demokratie beiträgt. Die repräsentative Demokratie, als Grundpfeiler für politische Entscheidungen, kann im Sinne einer lebendigen und vielfältigen Demokratie durch zwei Säulen ergänzt und gestärkt werden: Der direkten Demokratie (Volks- und Bürgerentscheide) und der dialogischen/deliberativen

Demokratie (z. B. Bürger*innenräte) (1). Bürger*innenräte haben sich als ein wichtiges Instrument bewährt, um eine breite Beteiligung der Bürger*innen bei geplanten Maßnahmen zu gewährleisten, ihre Zustimmung zu gewinnen und eine effektive Umsetzung zu unterstützen. Seit 2019 sind 6 nationale Bürger*innenräte auf Bundesebene durchgeführt worden, z.B zu “Deutschlands Rolle in der Welt”, zur “ Nationalen Klimapolitik” und zuletzt zu “Ernährung im Wandel”; mehr als 80 kommunale Bürger*innenräte wurden zu unterschiedlichsten Themen von diversen Gruppen eingeleitet (2). Bürer*innenräte ergänzen die in einigen Stadtteilen existierenden Stadtteilbeiräte tendenziell ohne parteipolitische Strategien. Sie sind eine Beteiligungsform, die punktuell, thematisch orientiert und projektgebunden vom Bezirksamt oder den Fachbehörden organisiert werden. Die Kernqualitäten von Bürger*innenräten lassen sich grob in drei Punkten darstellen:

  • Sie erarbeiten durchdachte und inhaltlich abgewogene Empfehlungen.
  • Wegen der gelosten Zusammensetzung der Teilnehmenden und der intensiven Deliberation/Beratschlagung mit Expert*innen und Entscheidungsträger*innen weisen die Ergebnisse eine hohe Legitimität auf und erhöhen das Vertrauen der gesamten Bevölkerung in Entscheidungsprozesse und getroffene Maßnahmen.
  • Sie schaffen Räume für ein verändertes Miteinander, politische Wirksamkeitserfahrungen und gelebte demokratische Praxis.

Entscheidend ist, dass die diskutierten Themen tatsächlich auf der jeweiligen Ebene vom jeweiligen Adressaten (z.B zuständigen Politiker:innen, Entscheidungstragenden, Bezirksamt) angegangen werden können. Je nach Thema ist es daher essentiell wichtig auszuwählen, wie und welcher Art und Weise und welchem Umfang der Bürger*innenrat durchgeführt werden soll und welche Akteur*innen eingebunden werden. Das im Februar 2024 erschienene “Handbuch kommunale Bürgerräte” von Mehr Demokratie e.V. in Kooperation mit dem Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF) Wuppertal und dem Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) in Potsdam gibt detaillierte Empfehlungen für die Umsetzung unterschiedlicher kommunaler Bürger*innenräte.

Ziel

Die Chance, und das ist auch unsere Zielvorstellung, Entscheidungen zu bestimmten, umstrittenen oder sensiblen Sachverhalten von direkt betroffenen oder involvierten Menschen, unabhängig von parteipolitischen Interessen, zu erarbeiten, bringt in den Quartieren oder bei Akteur*innen für die zu bearbeitenden Themenfeldern eine breitere Zustimmung, als wenn eine Partei entsprechende Vorschläge macht, da andere Parteien tendenziell politische Ziele dagegen stellen. Unsere Forderung: Bürger*innenräte auf Landes-, Bezirks- und Quartiersebene unterstützen

Wir fordern Bürger*innenräte auf Landes-, Bezirks- und Quartiersebene dann einzusetzen, wenn grundlegende Veränderungen, die die jeweiligen Bürger*innen oder Gruppen von Bürger*innen betreffen, sinnvollerweise von diesen erörtert, diskutiert und Entscheidungsvorlagen erarbeitet werden können.

Dafür fordern wir,

  1. grüne Mandatsträger*innen der Bezirksversammlungen und der Hamburger Bürgerschaft, sowie unsere Senatores auf, das Konzept Bürger*innenräte zu unterstützen.
  2. auf Landesebene eine parlamentarische Befassung mit dem Konzept Bürger*:innenräte mit dem Ziel dieses Instrument in Hamburg an geeigneter Stelle durchzuführen.
  3. ein auskömmliches Budget für die Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke, um die Bezirke federführend zu beraten und ihnen die Möglichkeiten für die Einsetzung von Bürger*innenräten zu ermöglichen.
  4. personelle und finanzielle Ressourcen für die Begleitung durch professionelle Akteur*innen. Dabei sollte die Finanzierung sowohl auf Landesebene als auch auf Bezirksebene von der/den Behörde/n, die den Bürger*innenrat beauftragt hat, erfolgen.
  5. Fortbildungen von Mitarbeiter*innen in den Bezirksämtern und in Fachbehörden hinsichtlich des Zwecks und der Umsetzung von Beteiligungsmethoden wie z.B. Bürgerinnenräten zu verstetigen.
  6. eine frühzeitige und enge Einbindung sowie Kommunikation mit den Behörden und Ämtern, um das Risiko der Enttäuschung der beteiligten Bürger und Bürgerinnen durch Nichtbeachtung ihrer Empfehlungen oder fehlende Kommunikation, wie es zu etwaigen anderweitigen Entscheidungen gekommen ist, zu minimieren.
  7. unabhängige Expert*innen und fachkundige Menschen bei der Umsetzung von Bürger*innenräten mit einzubeziehen.
  8. festgelegte Öffentlichkeitsarbeit hinsichtlich der Arbeit und der Ergebnisse des Bürger*innenrates.

Auf Landesebene ist auch eine Kombination von Bürger*innenrat und Stakeholder*innenrat denkbar. Dieses Modell hat sich insbesondere für industrieintensive Gemeinden/Länder als erfolgreich erwiesen(3).

Zusammensetzung der Bürger:innenräte

Die Berufung eines Bürger*innenrats erfolgt üblicherweise durch einen zufälligen Auswahlprozess, bei dem Personen aus dem Melderegister datenschutzkonform (4) anteilig pro Bezirk per Losverfahren ausgewählt werden. Um sicherzustellen, dass der Bürgerrat eine repräsentative Zusammensetzung hat, werden zusätzlich soziodemografische Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss und Migrationshintergrund berücksichtigt. Hierfür werden die Ausgelosten angeschrieben und eingeladen, sich für eine Teilnahme am anstehenden Bürgerrat zu bewerben. Dabei machen die Bewerber*innen Angaben, die aus den Einwohnermelderegistern nicht hervorgehen, wie bspw. zum Bildungsabschluss oder Migrationshintergrund. Anhand dieser Angaben und den bereits vorhandenen Daten zu Geschlecht, Alter und Wohnort wird eine Gruppe gebildet, die in ihrer Zusammensetzung ein möglichst gutes Abbild der Bevölkerung darstellt. Alle Quartiere der inneren und äußeren Stadt und auch Gruppen, die erfahrungsgemäß weniger auf Einladungen reagieren, sollten vertreten sein. Dies betrifft insbesondere Menschen ohne akademischen Hintergrund. Dieses könnte man über das Zufallsprinzip und die Berücksichtigung insbesondere der Quartiere, in denen Menschen mit vergleichsweise weniger Kaufkraft leben, erreichen.

Um sicherzustellen, dass auch Menschen teilnehmen, die weniger an dem jeweiligen Thema interessiert sind, gibt es verschiedene Ansätze, um die Rekrutierung zu verbessern. Hier haben die Institute, die schon häufiger Bürger*innenräte durchgeführt haben, weitreichende Erfahrung. Auf diese Expertise sollte auf jeden Fall zurückgegriffen werden. Mögliche Ansätze sind: Gezielte Haustüransprache, Schaffung von spezifischen Anreizen, individuelle Schreiben oder

persönliche Gespräche über Vorteile und Chancen einer Teilnahme, Aufwandsentschädigungen, Kinderbetreuung und technische Hilfe etc. Durch eine Kombination dieser Ansätze kann eine breitere Vielfalt an Teilnehmer*innen erreicht werden und sollte mit den durchführenden Instituten je nach Fragestellung intensiv beraten werden. Gruppengröße: Die Gruppengröße liegt in der Regel zwischen 10 und 20 Personen auf Quartiersebene, 35 und 50 Personen auf Bezirksebene und bei 100 bis 150 Personen auf Landesebene. Durch diese Größe wird angestrebt, die Vielfalt der verschiedenen Positionen in der Gesellschaft angemessen abzubilden.

Alternativ kann nach einem bezirklichen Modell aus Wien eine kleinere Gruppe von Teilnehmenden als Jury aus Büger*innen fungieren. Dabei wird die Bevölkerung aufgerufen, Ideen einzubringen, die von der Jury bewertet, ggf. prämiert, evaluiert und dann auf der entsprechenden Ebene eingefordert werden. Das kann entweder aus Kostengründen interessant sein, aber auch als Ergänzung laufender Verfahren, um zu erkennen, wo die Menschen sich auf Veränderungen einlassen würden und wo eher eine Kommunikationsstrategie entwickelt werden muss. Durchführung des Auswahlverfahrens, Moderation und Dokumentation Um die Qualität des Auswahlverfahrens sowie eine qualifizierte Moderation und Dokumentation sicherzustellen, wird empfohlen, unabhängige Durchführungsinstitute zu beauftragen.

Folgende vier Institutionen werden von uns empfohlen

https://www.buergerrat.de/
https://losland.org/
https://nexusinstitut.de/
https://www.mehr-demokratie.de/

Ergebnisse:

Die Empfehlungen werden in Form eines Bürger*innengutachtens der Hamburgischen Bürgerschaft oder den Bezirksversammlungen vorgelegt und dort beraten. Von größter Bedeutung ist, dass sich alle Beteiligten einig sind, dass ein Bürger*innenrat hilfreich ist und dass dessen Empfehlungen als Bereicherung angenommen werden. Zitat Bundespräsident a.D. Horst Köhler: „Wenn Deutschland die Pariser Klimaziele erreichen will, ist eine große gesellschaftliche Veränderungsbereitschaft vonnöten. Darum ist es so wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger an der Suche nach Lösungen beteiligt werden – und dass die Politik ihre Vorschläge ernst nimmt”

Verstetigung:

Um die Empfehlungen der Bürger*innenräte zu verstetigen und eine weitere Zusammenarbeit sicherzustellen, auch wenn die Regierung wechselt, können verschiedene Maßnahmen ergriffen werden. Dazu gehören regelmäßige Berichterstattung durch die Behörden an die Mitglieder der Bürger*innenräte über die Umsetzungen, Einbindung der Bürger*innenräte in Ausschüsse, Einrichtung bezirklicher Klimazentralen, in denen Mitglieder der Bürger*innenräte eine aktive Rolle in der Organisation und Kommunikation dieser Zentralen übernehmen. Um die Mitglieder der Bürger*innenräte als Kommunikatoren und Multiplikatoren zu gewinnen, könnten sie in verschiedenen Bereichen aktiv werden, wie z.B: gemeinsame Informationsveranstaltungen oder Workshops in den Bezirken, an Schulen und Stadteilzentren, um die Bürgerinnen und Bürger über die Arbeit des Bürger*innenrates und die erzielten Ergebnisse zu informieren.

[1] Krenzer, S. und Socher, S. (2024), Kommunale Bürgerräte organisieren. Handbuch für den Weg von der ersten Idee bis zur Verwendung der Empfehlung., Hrsg.: Mehr Demokratie e. V., IDPF Wuppertal, RIFS Potsdam, S. 13

[2] https://deutschlands-rolle.buergerrat.de/dokumentation/ : Evaluation von Bürgerräten auf Bundesebene und Empfehlungen an den Bundestag durch IASS (Institute for Advanced Sustainability Studies) und vom IDPF (Institut für Partizipations- und Demokratieforschung der Bergischen Universität Wuppertal)

[3] Partizipative Klimapolitik: Wie die Integration von Stakeholder-und Bürger*innenbeteiligung gelingen kann. Daniel Oppold, Ortwin Renn. dms – der moderne Staat, Jg. X, Heft X/20XX, 1–23

[4] Dokument Stabsstelle Bürgerräte Deutscher Bundestag zum Datenschutz:
https://www.bundestag.de/resource/blob/954138/b186222af409941ab50102d8a165d36f/datenschutzhinweise_buergerrat.pdf