In Hamburg sind seit 1980 Nguyễn Ngọc Châu, Đỗ Anh Lân, Ramazan Avcı, Mehmet Kaymakcı und Süleyman Taşköprü von Neonazis aus rassistischen Motiven ermordet worden. Bundesweit zeigen die Morde an Walter Lübcke, in Hanau und Halle sowie das Aufdecken von Gruppe S und NSU 2.0 das Erstarken rechten Terrors im Hier und Jetzt. Chatgruppen bei Polizei und KSK verdeutlichen, wie sehr rechtes Gedankengut auch innerhalb der Sicherheitsbehörden verbreitet ist. Die „Merkel muss weg“-Kundgebungen und die AfD in den Parlamenten ebnen schon seit einigen Jahren der extremen Rechten den Weg. Die zunehmend gewaltbereite – und nach recht außen driftende – „Querdenken”-Bewegung ist nur eine aktuelle Ausprägung davon. Die sich radikalisierenden Verschwörungsideolog*innen weisen erkennbare Schnittmengen mit rechtsextremen Gruppierungen auf. Und gerade die Hamburger Szene ist schon lange für die bundesweiten Nazistrukturen sehr bedeutsam. Bekannte Akteur*innen lebten hier weitgehend ungestört und kommen zurück auf die Straße.
Hamburg als Schaltzentrale für rechte Netzwerke
Hamburger Neonazis hatten hohe Bedeutung für die ideologische und theoretische Vorarbeit sowie die praktische Aufbauarbeit der Strukturen, aus denen später der NSU hervorging. Mit Thomas Wulff und Christian Worch sind hier auch exponierte Figuren in der Führungsetage deutscher Nazistrukturen aktiv – vor, während und nach den NSU-Morden.
Aktuell meldete Worch die Neonazi-Kundgebung am 01. Mai 2020 in Hamburg an und Wulff war Anheizer im wütenden Mob beim „Sturm auf den Reichstag“ [1]. Worch ist seit den 1970er Jahren in der Szene der extremen Rechten aktiv und war lange Jahre Vorsitzender der Partei Die Rechte. Anfang der 90er bauten Worch und Wulff mit anderen bundesweiten Nazikadern in Ostdeutschland gezielt Nazistrukturen auf. Daraus hervor ging u.a. der Thüringer Heimatschutz (THS), der sich also konzeptionell auf eine in Hamburg erdachte Nazi-Organisationsform bezieht, und aus dem später das NSU-Kerntrio (Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos) sowie große Teile von deren Unterstützer*innen stammen. Die Anleitung zur terroristischen Machtübernahme „Eine Bewegung in Waffen“ wurde mutmaßlich von Hamburger Neonazis 1992 geschrieben [2]. Anfang der 1990er konzipierten Worch und Wulff die „Freien Nationalisten“ als regionale Zusammenschlüsse von „Freien Kameradschaftszusammenhängen“ sowie das Konzept und die Kampagne „Anti-Antifa“. Dabei geht es unter anderem darum Feindeslisten zu erstellen und diese für Einschüchterungen und Gewalttaten zu nutzen. In der Hamburger Nazi-Zeitung „Hamburger Sturm“ wird der bewaffnete Kampf und „führerlose Widerstand“ diskutiert. Diese Zeitungen wurden bei Beate Zschäpe gefunden.
Die bundesweite Bedeutung von Worch und Wulff für die extreme Rechte in Deutschland geht so weit, dass der Neonazi V-Mann des bayrischen Verfassungsschutzes (Kai Dalek) im Münchner NSU-Prozess [3] davon spricht, regelmäßig in Hamburg gewesen zu sein sowie Konflikte innerhalb der rechten Szene „bis ganz nach oben, bis nach Hamburg, zu Worch“ getragen zu haben. Auch über den Thüringer Heimatschutz wird bei den Hamburger Nazigrößen berichtet. Kai Dalek gibt im NSU-Prozess außerdem an, seinen Verdacht, ein anderer Nazikader arbeite für einen Verfassungsschutz, an zwei Stellen gemeldet zu haben: den bayrischen Verfassungsschutz, sowie an Christian Worch und Thomas Wulff in Hamburg.
Das NSU-Kerntrio hatte die Hamburger Nazistrukturen ebenfalls auf dem Zettel. Der sogenannte NSU-Brief, eine Form der Ehrerbietung und ein Aufruf, aktiv zu werden mit Brief und Spende, wurde vom NSU 2002 an das „Deutsche Rechtsbüro“ sowie die „Nordische Zeitung“ der „Artgemeinschaft“ verschickt. Der Zettel mit den Versandadressen fand sich im NSU-Versteck. Beide extrem rechten Institutionen haben ihren Sitz in Hamburg. Hauptakteur der „Artgemeinschaft“ war der inzwischen verstorbene, seinerzeit prominente Anwalt der Neonazi-Szene, Jürgen Rieger. Rechtshilfe sowie rechtlichen Schulungen für Nazis hat sich das „Deutsche Rechtsbüro“ verschrieben, dort ist neben Jürgen Rieger auch Gisa Pahl eine zentrale Figur. NSU-Terrorist Uwe Böhnhardt besuchte 1997 eine Rechtsschulung eben dieser Gisa Pahl. Ralf Wohlleben, NSU-Unterstützer und Neonazi, wurde von Pahl 2005 gerichtlich vertreten. Es gab also politische Bezugnahme, rechtliche Unterstützung und vermutlich auch ein mindestens loses Kennverhältnis.
Hamburgs Neonazis sind nicht nur bundesweit Unterstützungsstruktur, sondern auch jahrzehntelanger Think Tank. In den 1970er Jahren fliegt die Wehrsportgruppe Werwolf im Umfeld von Michael Kühnen, einem Hamburger Neonazi, auf. Vorbild war Himmlers Organisation Werwolf: mit Kleingruppen im Untergrund durch Terrorakte und Sabotage Nazideutschland vor der Niederlage zu bewahren. Die Idee kursiert weiter unter Neonazis bietet eine strategische Orientierung. Vom Brandanschlag in der Halskestraße 1980 bei dem Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân ermordert wurden, über die Ermordung auf Hamburgs Straßen von Mehmet Kaymakçı und Ramazan Avcı bis zum NSU lassen sich Bezüge zu eben dieser Taktik finden. Dieser Ansatz ist in Hamburg immer noch aktuell: Im Juli 2013 gab es Razzien, u.a. in Hamburg gegen ein selbsternanntes Werwolfkommando [4]. Auch zu Gruppe S gibt es Bezüge nach Hamburg, so wird gegen den Hamburger Neonazi Thomas Gardlo in diesem Kontext ermittelt. “Gruppe S“ ist eine rechte Terrorgruppe, die Anschläge auf Moscheen, Politker*innen und Antifaschist*innen geplant haben soll. Thomas Gardlo fiel in den letzten Jahren dadurch auf, dass er die so genannten „Merkel muss weg“-Kundgebungen organisiert hat [5]. Ein anderer zentraler Akteur ist Thorsten de Vries, der 2015 den schlussendlich verbotenen „Tag der Patrioten“ organisierte [6].
Auch rechte Demonstrationen / Kundgebungen sind alles andere als harmlos. Sie können beflügeln und bestärken. So hat vermutlich Stephan Ernst seinen Entschluss, Walter Lübcke zu ermorden, 2018 kurz nach dem Aufmarsch in Chemnitz am 01. September 2018 gefasst. Er hatte mit mindestens sechs Personen aus dem NSU-Umfeld Kontakt [7]. Organisationen wie im Falle von „Querdenken“ werden von vielen Kadern der extremen Rechten als Werkzeug für den Sturz der Regierung durch eine nationalrevolutionäre Massenbewegung gesehen. Für diesen „Tag X“ werden von Mitgliedern rechter Netzwerke Waffen, Sprengstoff und Munition gesammelt, Feindeslisten angelegt und trainiert. Momente, in denen staatliche Stellen die Kontrolle verlieren dürfen nicht vorkommen – weder bei Versammlungen von Verschwörungsideolog*innen, noch bei Neonazi-Aufmärschen. Gesellschaftliche Bestätigung sowie Nicht-Handeln staatlicher Stellen bestärkt Radikalisierungsprozesse Rechter und damit letztlich rechten Terror. Das muss verhindert werden.
Der Staat muss rechte Netzwerke erkennen und aufklären
Bisher sind die staatlichen Sicherheitsorgane im Umgang mit rechtem Terror nicht vorne dabei, lassen zu viel zu oder sind selbst verstrickt. Sie sollten wissen, wo die Gefahr rechten Terrors lauert, diese bekämpfen und die Öffentlichkeit informieren. Erst kürzlich wurde durch zivilgesellschaftliche Recherche bekannt, dass zwei Mitarbeiter im Bundesverteidigungsministerium Mitglieder der Hamburgischen Burschenschaft Germania (HBG) sind. Das ist brisant, denn die HBG fällt seit langem mit eindeutig rechtsextremen Positionen und Verbindungen, u.a. zur Identitären Bewegung oder zur AfD, auf. Dass die AfD diese Nähe und Verzahnung hat – auch mit dem Milieu der „Merkel muss weg“- Kundgebungen und Coronaleugner*innen – haben zur Beobachtung „des Flügels“ der AfD in Hamburg durch den Verfassungsschutz geführt [8a][8b]. Laut diesem werde auf Veranstaltungen der Burschenschaft z.B. nationalsozialistisches Liedgut gesungen oder das NS-Regime verherrlicht. Jetzt sollte die Öffentlichkeit auch erfahren: Wo überall noch arbeiten Mitglieder der HBS und sind politisch aktiv? Welche rechten Netzwerke haben, pflegen und bauen sie? Welche Rolle spielt die AfD als parlamentarischer Arm der extremen Rechten? Was wird gegen die Bewaffnung rechter Gruppen getan? Was wusste der Staat über Mordpläne der Hamburger Neonazis?
Wer sich in die Dokumentation der polizeilichen Ermittlungen zum Mord an Süleyman Taşköprü einarbeitet, findet Ermittlungsarbeit, die mit institutionellem Rassismus gespickt ist. Institutioneller Rassismus meint systematische Diskriminierung, bei der – mitunter nicht absichtlich – rassistische Zuschreibungen oder Muster reproduziert werden [9]. Der Umgang mit dem Vater von Süleyman Taşköprü macht das deutlich. Er berichtete, dass er „zwei weiße deutsche Männer, zwischen 25 und 30 Jahren aus dem Laden in der Schützenstraße kommen sah, kurz bevor er seinen ermordeten Sohn fand“. Diesem Hinweis wurde nicht nachgegangen, das rassistische Motiv wurde nicht erkannt. Es wurde primär in eine andere Richtung ermittelt [10]. Jahrelang wurden sowohl dem Opfer als auch den Angehörigen organisierte Kriminalität vorgeworfen, obwohl sie Opfer rassistischer Gewalt geworden waren. Wie sehr die Hamburger Ermittlungsbehörden nicht bereit waren, sich von dem Bild der organisierten Kriminalität mit rassistischen Zuschreibungen zu lösen, wird am deutlichsten daran, dass sogar ein iranischer Wahrsager eingeflogen wurde, um via eines Mediums Kontakt zum Toten aufzunehmen [10]. Der Ermittlungsansatz, dem man im Anschluss folgte, waren folgende Hinweise: „polizeibekannte Bande, eine Person heiße Armin oder Amin, lose Organisationsform, eher südländische Typen.“ Nach diesem Profil wurde in der Folge dann auch erfolglos gesucht [10]. Der Hamburger Ermittlungsleiter Schwarz sagte im Jahr 2020 vor dem Untersuchungsausschuss in MV, nachdem ein Abgeordneter Schwierigkeiten bei der korrekten Aussprache von Süleyman Taşköprü hatte, „Wir nannten ihn damals Sülo.“ [3] Dieser Umgang deutet darauf hin, dass bis heute rassistische Zuschreibungen präsent sind.
In den abgeschlossenen NSU-Untersuchungsausschüssen von Bund und Ländern, dem NSU-Prozess in München sowie dem aktuell laufenden Untersuchungsausschuss in Mecklenburg-Vorpommern ist die Rolle der Hamburger Behörden kritisch bewertet worden. Bundesweit setze sich mehrheitlich der Fahndungsansatz „Einzeltäter mit persönlichem/politischem Motiv durch“. Hamburg fokussierte sich allerdings weiter auf Ermittlungen im Bereich organisierter Kriminalität und argumentierte für eben diese. Den Hamburger Ermittler*innen wird außerdem – wie im bayrischen parlamentarischen Untersuchungsausschuss bekannt wurde – von dortigen Behörden vorgeworfen, nach dem 11. September 2001 zu viele Kräfte von den Mordermittlungen abgezogen zu haben [11]. Aus dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Bundestag [10] ist ein polizeilicher Vermerk bekannt, der die Anfrage der polizeilichen Ermittler*innen aus dem Jahr 2006 beim Hamburger Verfassungsschutz (LfV) zu einem möglichen politischen Hintergrund der Ermordung des NSU Opfers Süleyman Taşköprü wie folgt dokumentiert: „LfV war zu einzelnen Personen unseres Interesses nicht aussagefähig….Die Serie war bei LfV nur aus Presse bekannt.“ Das verwundert, wenn man bedenkt, dass im Jahr vor der Ermordung in Hamburg gegen Nazistrukturen vorgegangen wurde und damit ein Fokus des Verfassungsschutzes auf Nazistrukturen hätte liegen müssen. Auch gab es trotz mindestens einer Nähe zum NSU-Kerntrio bei Gisa Pahl in Hamburg nie eine Hausdurchsuchung.
Hamburg ist das einzige Bundesland, in dem es einen NSU-Mord, aber keinen NSU-Untersuchungsausschuss, gab. Stattdessen gibt es einen 87 Seiten dicken Selbstaufklärungsbericht von Polizei und VS zum NSU aus dem Jahr 2014 [12]. Dieser kommt zu folgender unbefriedigenden Schlussfolgerung: Es handelte sich um unglückliche Zufälle und eine mit rechtsextremen Mordfällen überforderte behördliche Struktur, für die dieser Fall ein Novum darstellt. Diese Schlussfolgerung ist nicht nur zu dünn angesichts der rechten Mordanschläge seit den 70ern und der Kontinuität einer bundesweit agierenden Hamburger Nazikader-Clique, sondern auch ein Ausdruck systemischen Versagens, ungeklärten Fragen und der Unfähigkeit, institutionellen Wandel anzustoßen. Und dieser institutionelle Wandel wäre dringend nötig. Staatliche Sicherheitsorgane sollten Rassismus sowie Antisemitismus erkennen und bekämpfen – und zwar vorsorglich und nicht nur dem zivilgesellschaftlichen Druck grade genug nachgeben.
Was wir tun können und müssen
Als Antifaschist*innen müssen wir die Geschichte und Aktualität Hamburger Nazistrukturen und ihre Verstrickungen kennen, wir müssen sie als Partei bekannter machen und uns für die restlose Aufklärung von Morden und Gewalttaten einsetzen. Was heute öffentlich ist, wurde zum Großteil zivilgesellschaftlich aufgearbeitet. Die Fragen liegen auf dem Tisch – die Antworten in nicht öffentlichen, hoffentlich noch nicht geschredderten Akten sowie bei Zeug*innen. Es gibt ein politisches Instrument, das Zeugenvorladungen, Zeugenaussagen und Einsicht in nicht öffentliche Akten ermöglicht: Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Dies haben wir bereits 2015 und 2020 versucht und konnten unseren Koalitionspartner leider nicht für dieses wichtige Anliegen gewinnen. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, bei der parlamentarischen Arbeit und Aufklärung weiterhin dafür zu kämpfen – mit der Gruppe S und den Querdenker*innen sind in den vergangenen Monaten neue Akteur*innen aufgetreten, die extreme Rechte findet immer mehr Zuspruch. Parlamentarische Aufklärung ist notwendig, um auch aktuelle Entwicklungen in den Blick zu nehmen und dabei einen besonderen Fokus auf die Kontinuitäten und Verflechtungen von Hamburgs rechter Szene seit mindestens den 70ern zu legen. Es gibt in Hamburg bundesweite Nazikader, bekannterweise rechten Terror seit den 70ern, institutionellen Rassismus sowie eine NSU-Aufklärung, die mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Das können wir ändern. Das müssen wir ändern.
Quellen:
[1] https://exif-recherche.org/?p=6953
[2] https://www.bpb.de/135578/der-nsu-im-lichte-rechtsradikaler-gewalt?p=3
[3] https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/293325/der-nsu-prozess-das-protokoll
[4] http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/8848666
[8a] https://www.hamburg.de/innenbehoerde/schlagzeilen/14751300/afd-fluegel-waechst-in-hamburg/
[8b] https://www.volksverpetzer.de/recherche-afd/afd-neonazi-netzwerke-1985-2020/
[9] http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/CD14600/Protokolle/Protokoll-Nr%2019.pdf S.78-80