Am 15. August 2021 nahmen die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul ein. Spätestens seit diesem Tag ist nicht zu bestreiten: Der Versuch, Afghanistan zu einer stabilen Demokratie zu entwickeln, ist gescheitert. Spätestens seit diesem Tag erreichen uns täglich zahlreiche Nachrichten von Menschen aus Hamburg, die um Angehörige, Verwandte, geliebte Menschen in Afghanistan, in Kabul bangen. Das Desaster in Afghanistan betrifft uns in Hamburg dadurch unmittelbar. Viele Menschen, die in den letzten 20 Jahren voller Hoffnung und Vertrauen mit der Bundeswehr, mit deutschen Organisationen, mit anderen westlichen Kräften zusammengearbeitet haben, suchen jetzt nach einem Weg heraus aus dem Zugriff der Taliban. Und setzen ihre Hoffnung auf die Zusage Deutschlands, sie nicht im Stich zu lassen. Besonders Frauen und Mädchen sind nach der Machtübernahme der Taliban von Unterdrückung bedroht. Wir haben die Aufgabe und Verantwortung, diesen Menschen gerecht zu werden! Wir erwarten, dass Deutschland zu seiner humanitären Verantwortung steht. Deutschland muss versuchen alle Ortskräfte und ihre Familienangehörigen auch nach dem Ende der Evakuierungsmission aufzunehmen.
Gleichzeitig hat das Scheitern in Afghanistan auch Auswirkungen auf die Menschen aus Afghanistan, die in Deutschland leben. Viele Menschen leben immer noch mit völlig unklaren Bleibeperspektiven, weil Deutschland offiziell der Idee anhängt, eines Tages wäre Afghanistan stabil genug, so dass viele Afghan*innen zurück nach Afghanistan gehen könnten. Nachdem diese Stabilisierung Afghanistans zwei Jahrzehnte nicht geglückt ist, ist sie mit der Rückkehr der Taliban an die Macht auf absehbare Zeit gescheitert. In dieser Situation stehen wir vor verschiedenen Aufgaben auf verschiedenen Ebenen.
Bundesebene:
1. Deutschland muss dringend dafür sorgen, dass die Menschen, die nicht evakuiert werden konnten, zügig und sicher Afghanistan verlassen können. Hier ist die Bundesregierung in mehrfacher Verantwortung:
- Statt eines chaotischen und unklaren Systems von Meldungen beim Auswärtigen Amt braucht es klare Zuständigkeiten und einen klaren Prozess, wer sich mit welchen Angaben wo melden muss, um als Ortskraft bzw. gefährdete Person anerkannt werden zu können.
- Die Kriterien für Ortskräfte, deren Angehörige sowie weitere gefährdete Personen müssen deutlich ausgeweitet werden. Es kann nicht sein, dass Personen, die nur indirekt für die Bundeswehr über Subunternehmen gearbeitet haben, nicht als Ortskraft anerkannt werden.
- Es müssen verständliche Papiere und Dokumente für die Ausreise aus Afghanistan und die Weiterreise nach Deutschland ausgegeben werden. So müssen Visa-on-arrival ausgestellt und Vorabzustimmungen des BAMF erteilt werden. Der Ankunftsprozess in Deutschland muss nachvollziehbar organisiert werden.
- Der Familiennachzug muss unbürokratischer und schneller werden. Dazu gehört die unverzügliche Umsetzung aller bewilligten Familiennachzüge, das Absehen auf A1 Sprachzertifikate und die beschleunigte Bearbeitung der bereits gestellten Anträge.
Zusammenfassend: Wir erwarten von der künftigen Bundesregierung ein humanitäres Aufnahmeprogramm nach § 23 Abs. 1 AufenthG für Personen mit Aufenthalt in Afghanistan oder Nachbarstaaten sowie ein Bundesaufnahmeprogramm nach § 22 Abs. 2 AufenthG. Möglichkeiten des Resettlement in Kooperation mit dem UNHCR sollten ausgeschöpft werden. Landesvorstand und Bundesvorstand werden aufgefordert, sich hierfür in den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene einzusetzen.
2. Deutschland muss sich auf einen bundesweiten Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG verständigen. Damit verbunden, wird es notwendig sein, hier lebenden Afghan*innen mit Duldung eine verlässliche Perspektive für den weiteren Aufenthalt in Deutschland zu geben. Deshalb fordern wir Landesvorstand und Bundesvorstand auf, sich in den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene für eine Stichtagsregelung für Langzeitgeduldete einzusetzen.
3. Der Bund hat durch seine Entscheidung, den Zugang zu Sprachkursen und Instrumenten der Arbeitsmarktförderung an die Anerkennungsquote bei Asylverfahren zu koppeln, Geflüchtete aus Afghanistan systematisch vom Spracherwerb und von der Arbeitsmarktintegration abgekoppelt. In Hamburg haben wir GRÜNE wie auch unser Koalitionspartner SPD dies immer scharf kritisiert, weil es integrationspolitisch kontraproduktiv ist. Denn die meisten Afghan*innen blieben und bleiben dauerhaft in Deutschland. Mit der neuen Situation in Afghanistan, mit einem bundesweiten Abschiebestopp ist dies offensichtlich. Daher gibt es aus unserer Sicht keine Alternative mehr zum Öffnen der Sprachkurse und Arbeitsmarktinstrumente für Menschen aus Afghanistan. Wir fordern auch hier Landesvorstand und Bundesvorstand auf, sich in den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene hierfür einzusetzen.
4. Laufende Widerrufs- und Rücknahmeverfahren betreffend bereits schutzberechtigte afghanische Geflüchtete sollten durch das BAMF umgehend beendet, noch nicht bestandskräftige Bescheide aufgehoben werden.
5. Mit Blick auf humanitäre Hilfen für die afghanische Bevölkerung sollte Hamburg sich dafür einsetzen, dass diese in Zusammenarbeit mit unabhängigen Organisationen der Zivilgesellschaft, insbesondere Frauenorganisationen, koordiniert und vergeben werden. Hilfen sollten insbesondere Mädchen, Frauen und Kindern zugute kommen. Gelder für humanitäre Zwecke, wie Nahrungsmittel, medizinische Hilfe und anderes, sollten direkt an die entsprechenden Organisationen vergeben werden, ohne dass die Taliban Zugriff auf die Mittel erhalten.
Landesebene:
In Hamburg haben sich SPD und GRÜNE frühzeitig zur Verantwortung Hamburgs für die Aufnahme von aus Kabul evakuierten Personen bekannt. Während anderswo noch nachgedacht wurde, hat Hamburg seine Möglichkeiten zur Aufnahme umgehend zur Verfügung gestellt. Wir begrüßen dieses entschlossene Vorgehen und erwarten, dass Senat und Bürgerschaftsfraktionen in diesem Sinne weiter handeln. Hierzu gehört für uns zum einen, sich auf Bundesebene für die oben skizzierten notwendigen Schritte entschieden einzusetzen. Zum anderen gehört dazu, systematisch zu prüfen, was wir in Hamburg auch unabhängig von der Bundesebene tun können. SPD und GRÜNE haben in der Vergangenheit hier schon sehr systematisch “Hinweise zur aufenthaltsrechtlichen Perspektive der in Hamburg lebenden afghanischen Staatsangehörigen” erarbeitet. Wir bitten Senat und Fraktion, diese Hinweise im Hinblick auf die neue Situation zu überarbeiten. Dabei muss berücksichtigt werden, dass dauerhaft keine Abschiebungen mehr möglich sind. Daher sollte auf die Anregung von Widerrufsverfahren gegenüber dem BAMF bis auf weiteres verzichtet werden. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass die Beschaffung von Identitätspapieren und Pässen in Afghanistan selbst bzw. bei konsularischen Vertretungen Afghanistans unter dem Regime der Taliban kaum mehr zumutbar sein wird. Wir gehen daher davon aus, dass auch Aufenthaltserteilungen nach § 25 Abs. 5 AufenthG ergänzend zu einer erhofften Stichtagsregelung des Bundes für lange geduldete Afghan*innen Perspektiven eröffnen.
Ebenso sind wir überzeugt, dass Hamburg ergänzend zu möglichen Regelungen des Bundes den hier lebenden langjährig verankerten Afghan*innen über eine Erweiterung des Landesaufnahmeprogramms für Familienangehörige von in Hamburg lebenden syrischen Staatsangehörigen auf afghanische Staatsangehörige die Chance eröffnen sollte, Familienangehörige im Rahmen dieses Programms zu sich nach Hamburg holen zu können; diese Möglichkeit sollte auch besonders vulnerablen Personen (Frauenrechtler*innen, Menschenrechtler*innen, Journalist*innen und anderen Personen, die sich für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Afghanistan eingesetzt haben) ohne familiäre Beziehung nach Hamburg eröffnet werden.