Niederlage akzeptieren, Volksentscheid umsetzen

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Mit dem Volksentscheid wurde ein zentrales Element der Hamburger Schulreform verhindert. Das sechsjährige gemeinsame Lernen, das – unter den Bedingungen einer besseren Förderung – mehr Zeit für die Entwicklung eines jeden einzelnen Kindes bis zur Entscheidung für eine weiterführende Schule bedeutet hätte, – ist für längere Zeit vom Tisch. Die Bürgerschaft, die sich geschlossen für dieses weltweit erfolgreich erprobte Modell ausgesprochen hatte, muss sich jetzt den Regeln der Volksgesetzgebung beugen, die das Parlament zuvor selbst vorgegeben hat.

Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig und werden heute bundesweit diskutiert. Zwar haben sich am Ende 217.969 Hamburgerinnen und Hamburger für die Primarschule und damit für längeres gemeinsames Lernen ausgesprochen! Fest steht aber, dass es nicht gelungen ist, eine Mehrheit der Menschen erstens zu erreichen und zweitens davon zu überzeugen, dass sechsjähriges gemeinsames Lernen dazu beiträgt, die erheblichen Mängel im Schulsystem, wie die hohe Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft sowie die hohe Zahl der Jugendlichen, die die Schule ohne ausreichende Kompetenzen verlassen, zu vermindern. Wir müssen erkennen, dass die Zeit für diesen Schritt nicht reif war, dass viele Menschen nicht bereits sind, diesen Schritt zu gehen. Für die GAL ist dies ein Anlass, das mit der Primarschulkampagne verbundene eigene Politik-Konzept kritisch zu überprüfen und die Gründe für unser Scheitern sorgfältig aufzuarbeiten.

Auch nach dem verlorenen Volksentscheid gilt weiterhin, dass Bildungspolitik für die GAL Hamburg in ihrer Regierungsverantwortung eine zentrale, herausgehobene Bedeutung hat. Denn der Volksentscheid ändert nichts an den großen Problemen, vor denen wir in Hamburg stehen: Viele Schülerinnen und Schüler erreichen als 15jährige nur die Kompetenzen, die in der 4. Klasse erwartet werden. Gleichzeitig haben wir auch zu wenig Schülerinnen und Schüler, die Spitzenleistungen erreichen. Aber vor allem benachteiligt unser Bildungssystem massiv Kinder und Jugendliche, die aus Familien kommen, die sozial benachteiligt sind. Wir orientieren uns weiterhin an den empirischen Daten, die die Pisa-Studien und andere Untersuchungen für Hamburg liefern. Unter teilweiser Umschichtung der Ressourcen kann an bereits angeschobene Reformprozesse angeknüpft werden. Die Kommunikation mit den an Schule Beteiligten tritt in eine neue Phase. Das Ziel aber bleibt unverändert: Hamburg braucht eine neue Schule – gerecht und leistungsstark.

Erreichtes erkennen, Weg weitergehen

Mit dem Aus der Primarschule fehlt der Schulreform ein wesentlicher und tragender Bestandteil für eine gerechte und leistungsstarke Schule. In der öffentlichen Wahrnehmung ist damit sowohl die Schulreform gescheitert als auch unsere grüne Bildungsprogrammatik am Ende. Dem widersprechen wir ausdrücklich!

Unser grünes Programm „9 macht klug“ besteht aus neun inhaltlichen Bausteinen. Nur einer davon ist das längere gemeinsame Lernen. Dieser Baustein in Form der sechsjährigen Primarschule ist abgelehnt worden und wird jetzt nicht umgesetzt. Doch wir haben bereits sowohl vieles erreicht als auch angestoßen, das sich lohnt, umgesetzt zu werden:

  1. Erfolgreiche Schulen sind Ganztagsschulen – wenn sie mit neuen Konzepten verbunden sind.“ („9 macht klug“). In diesem Punkt haben wir schon einiges erreicht: unser Koalitionsprojekt, 50 neue Ganztagsschulen einzurichten, läuft seit 2008 bereits. Ebenso haben wir bereits 2008 die Personalausstattung der Ganztagsschulen verbessert. Neue Konzepte und Angebotsformen für die Gestaltung des Ganztagsunterrichts müssen jetzt in Zusammenarbeit mit den Schulen erarbeitet werden.

  1. Neugierig sein und sich ausprobieren, Fehler machen und Fragen stellen – das sind die Schlüssel der Schule von morgen. Denn Leistung hängt immer von der Atmosphäre ab.“ („9 macht klug“). Die Erkenntnis, dass ein gutes Klima Leistung fördert, gilt weiterhin. Neue Formen des Unterrichts, individualisiertes und selbständiges Lernen, sowohl miteinander als auch voneinander, werden unabhängig von der Primarschule eingeführt. Sie sind fester Bestandteil aller Rahmenkonzepte, wurden in den neuen Bildungsplänen und im Schulgesetz verankert. Wir haben ein umfangreiches Fortbildungsangebot auf den Weg gebracht, von dem Lehrerinnen und Lehrer engagiert Gebrauch machen. Es bedeutet aber auch, dass hierfür die entsprechende Ressourcen und die notwendige Unterstützung sichergestellt werden müssen.

  1. Für die NEUE HAMBURGER SCHULE gibt es einheitliche Qualitätsstandards: Der Unterricht, die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer sowie die Ausstattung und die Arbeitsbedingungen an der Schule kommen ständig auf den Prüfstand. Zum modernen Qualitätsmanagement gehören Leistungsvergleiche mit anderen Schulen. Die Kinder werden geprüft, um sich weiter zu entwickeln, nicht um aussortiert zu werden.“ („9 macht klug“). Mit der Schulinspektion verfügt Hamburg über ein Instrument, Schulen zu prüfen und ihnen Rückmeldung zu geben. Dieses Instrument wird laufend weiterentwickelt. Zurzeit wird ein Kompetenzfeststellungsverfahren erarbeitet, das Kindern eine Rückmeldung gibt, wo sie stehen. Parallel dazu haben wir die Leistungsbeurteilung auf neue Wege gebracht: Kinder und Eltern sollen mit den Lernentwicklungsberichten sowie den verpflichtenden Lernentwicklungsgesprächen eine bessere Rückmeldung über Lernfortschritte und Lernstände erhalten.

  1. Kinder sollen sich nicht langweilen und ihr Tempo selbst bestimmen. Statt Sitzenbleiben gibt es ein individuelles Aufbautraining für alle.“ („9 macht klug“). Das Sitzenbleiben ist abgeschafft, in den Klassen 7 bis 10 auch das Abschulen. Im Schulgesetz haben wir dafür einen Rechtsanspruch auf individuelle Fördermaßnahmen verankert, wenn ein Kind in seinen Leistungen den Anschluss verliert. Die weiterführenden Schulen erhalten hierfür zusätzliche Stellen, um diese Form der individuellen Unterstützung geben zu können. Auch dieser Prozess steht noch in den Startlöchern und erfordert eine intensive Begleitung und einen kontinuierlichen Erfahrungsaustausch.

  1. Je jünger Kinder sind, desto leichter lernen sie. Um Kinder schon vor dem Schulbeginn zu stärken, haben wir das „Bildungsjahr fünf plus“ entwickelt, das die Neugier und Lernlust der Kleinen aufnimmt.“ („9 macht klug“). Um allen Kindern die Teilnahme an diesem Bildungsjahr zu ermöglichen, haben wir die Gebühren in der Vorschule und im letzten Kitajahr vor der Schulpflicht abgeschafft. Seit 2008 steigt die Zahl der Kinder im vorschulischen Bereich stetig an. Mehr als 50% der 5jährigen besuchen dabei die Vorschule. Gleichzeitig zeigen sich erste Erfolge der Sprachförderung in der Kita und der Vorschule. Insbesondere diesen Bereich gilt es weiter auszubauen.

  1. Die NEUE HAMBURGER SCHULE lebt von Zusammenarbeit und Austausch. (…)Und sie macht Demokratie für Kinder erlebbar.“ („9 macht klug“). Wir haben im Schulgesetz die Mitwirkungsrechte der Schülerinnen und Schüler und der Eltern bei wichtigen Entscheidungen wie dem Abschluss der Ziel- und Leistungsvereinbarung und der Ausgestaltung der schuleigenen Stundentafel ausgebaut. Nach dem Aus der Primarschule, die jüngeren Kindern neue Mitwirkungsrechte gegeben hätte, brauchen wir auch in allen Grundschulen zukünftig Ansätze, Demokratie für Kinder erlebbar zu machen.

  1. Die NEUE HAMBURGER SCHULE öffnet sich zum Stadtteil, arbeitet mit Betrieben, Vereinen und Initiativen aus der Nachbarschaft zusammen.“ („9 macht klug“). Mit den Regionalen Schulentwicklungskonferenzen haben wir einen sehr erfolgreichen Weg der regionalen Mitbestimmung in der Schulentwicklungsplanung erprobt. Wir haben darüber hinaus die Regionalen Bildungskonferenzen gesetzlich verankert, die eine Kooperation zwischen den Schulen zu unterschiedlichen Themenfeldern verstärken. Gleichzeitig bieten sie die Chance für einen Austausch und eine verstärkte Kooperation mit außerschulischen Akteuren in der Region. Die Bezirke erhalten bereits zusätzliches Personal, um die Konferenzen zu koordinieren. Um die Ergebnisse wirksam werden zu lassen, braucht es eine enge Verknüpfung zwischen Schule und regionaler Stadtteilentwicklung sowie Mittel, regionale Initiativen umsetzen zu können.

  1. Die NEUE HAMBURGER SCHULE soll künftig autonom wirtschaften und entscheiden können – um Konkurrenz zu fördern und Qualität zu steigern.“ („9 macht klug“). In der Vergangenheit sind schon wichtige Schritte eingeleitet worden, den Schulen mehr Eigenständigkeit zu geben, z.B. im Hinblick auf die Personalentwicklung. Eine weitere wichtige Aufgabe der Schulen ist jetzt die konzeptionelle Verantwortung für die Ausgestaltung der Bildungspläne zu übernehmen, die Erarbeitung schulinterner Curricula. Besonders wichtig ist es, dass die Schulleitungen gut ausgestattet sind, um dieser Eigenverantwortung auch gerecht werden zu können.

Im Sommer 2008 wurde mit dem Ende der isolierten Hauptschule bereits eine wichtige strukturelle Entscheidung getroffen. Viele andere Bundesländer halten aus ideologischen Gründen an der Hauptschule fest. Mit der Stadtteilschule gibt es jetzt zwei Wege zu einem qualifizierenden Abschluss bzw. zum Abitur. Nach dem Aus für die Primarschule kommen auf die Stadtteilschule zusätzliche Aufgaben zu, da sie nun auffangen muss, was in der vierjährigen Grundschule gegenüber der sechsjährigen Primarschule nicht geleistet werden kann. Um diesen Ausgleich leisten zu können, braucht die Stadtteilschule eine besonders gute Unterstützung. Gerade in den Klassen 5 und 6 und für Schulen in sozial benachteiligten Gebieten halten wir eine bessere Ausstattung für sinnvoll.

Wie aus der Aufzählung deutlich wird, bleiben wichtige Bestandteile der Schulreform damit vom Volksentscheid unberührt. Gleichzeitig haben wir die finanzielle Ausstattung des schulischen Bereiches deutlich gestärkt. Seit 2008 schaffen wir zusätzliche Lehrerstellen: um Ganztagsschulen besser auszustatten, um den Lehrkräften an den Gymnasien besseren Unterricht in der verkürzten Oberstufe zu ermöglichen und um die Klassengrößen in den Grundschulen zu reduzieren. Bis zum 31.12.2009 kamen bereits 387 Stellen hinzu. Und mit dem Beginn der Stadtteilschule, mit dem Programm „Fördern statt Sitzenbleiben“ und insbesondere mit den bundesweit erst- und einmaligen als Rechtsanspruch im Gesetz verankerten kleineren Klassengrößen werden weitere Lehrkräfte an die Schulen kommen.

So wichtig wie das längere gemeinsame Lernen zu Beginn ist, so wichtig ist auch unser Ziel für das Ende der Schulzeit: kein Abschluss ohne Anschluss. Mit der Reform des Übergangssystems von der Schule in den Beruf werden die Chancen des Einzelnen auf die Integration in den Arbeitsmarkt weiter verbessert und sinnlose Warteschleifen abgebaut. Dieser Auftrag wird durch die Bildungsbehörde in dem Rahmenkonzept zur Reform des Übergangssystems Schule – Beruf und den neuen Rahmenvorgaben für die Berufs-und Studienorientierung an allen weiterführenden Schulen konsequent umgesetzt. Im Zentrum stehen eine nachhaltige Berufsorientierung mit verbindlichen Ansprechpartnern für die Schülerinnen und Schüler, dem Lernen an außerschulischen Lernorten, der Kooperation mit den beruflichen Schulen und der Einführung eines Studien- und Berufswegeplans. Für alle marktbenachteiligten Jugendlichen werden durch Abschaffen der Warteschleifen in einem aufwachsenden Prozess vollwertige anerkannte Ausbildungsalternativen im Hamburger Ausbildungsmodell eröffnet. Für Schulabgänger ohne hinreichende Ausbildungsreife werden neuen Formen einer individualisierten und in Kooperation mit dem Lernort Betrieb durchgeführten Ausbildungsvorbereitung eingeführt. Ab August 2010 sind in allen 7 Hamburger Bezirken neue Produktionsschulen zur Förderung der besonders benachteiligten Jugendlichen eingerichtet.

Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt uns den Auftrag, die Inklusion an allgemeinen Schulen umzusetzen. Unser Ziel ist es, alle allgemeinen Schulen in die Lage zu versetzen, inklusiven Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler anzubieten. Dies kann und darf nur in einer Übergangsphase eine Sonderaufgabe bestimmter Schulen sein. Wir wollen Kinder mit Behinderungen nicht weiterhin absondern; vielmehr sollen sie die Möglichkeit haben, gemeinsam mit den anderen Kindern ihres Alters lernen zu können.

Vieles ist schon erreicht und umgesetzt, vieles ist bereits beschlossen und muss noch umgesetzt werden – es lohnt sich, diesen Weg weiterzugehen.

Vertrauen rechtfertigen, Verantwortung übernehmen

Die GAL ist eine Bildungspartei – deshalb wurden wir gewählt, deshalb regieren wir und deshalb haben wir uns entschieden, auch die Verantwortung für das Bildungsressort zu übernehmen. Wir haben diese Verantwortung nicht nur übernommen, um längeres gemeinsames Lernen durchzusetzen. Wir haben diese Verantwortung übernommen, um Schule insgesamt besser, gerechter und leistungsfähiger zu machen. Viele Menschen in Hamburg vertrauen darauf, dass wir eine neue Schule nicht nur denken, sondern auch umsetzen. Dieses Vertrauen wollen wir rechtfertigen. Das heißt jetzt: Verantwortung übernehmen, die Reform zum Gelingen bringen und weiter entwickeln.

Jetzt handeln, in die Zukunft blicken

Sehr viel Positives ist auf den Weg gebracht und steht unmittelbar zur Umsetzung an. Gleichzeitig müssen Bürgerschaft und Bildungsbehörde den Volksentscheid umsetzen, das Schulgesetz novellieren, den Vertrauensschutz für die Starterschulen gewährleisten und sie verantwortungsvoll begleiten und unterstützen, so dass sie erfolgreich arbeiten können, und die vielen bereits genannten Teile der Schulreform praktisch umsetzen.

Gleichwohl gibt es Aufgaben, die über die Leitsätze des bisherigen Konzeptes hinausgehen.. So beinhaltet der Übergang von der Kita in die Schule noch viele Fragen. Das jahrgangsübergreifende Lernen der Jahrgänge 0 und 1 oder die flexible Einschulung zu einem Zeitpunkt, an dem ein Kind soweit ist, sind bisher noch nicht umgesetzt.

Nicht alle Probleme lassen sich in der Schule zu lösen. Flankierende Angebote, wie Bildungspaten, Sozialarbeiter und psychologische Hilfen müssen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bildungsbiografie verbessern. Noch immer finden sich zu wenige Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund an den Schulen, die ein wichtige Brücke zu zugewanderten Familien sein könnten.

In der Auseinandersetzung um die Primarschule hat sich gezeigt, dass es an einer realistischen Einschätzung des öffentlichen Rückhalts für ein gemeinsames längeres Lernen mangelte und dass große Zielgruppen nicht genügend erreicht werden konnten. Wir haben mit unserem Reformvorschlag nicht genügend Überzeugungskraft entfaltet und die kritische Stimmung in Elternschaft und Lehrerschaft deutlich unterschätzt. Lehrkräfte und Kollegien haben angesichts der Reformwellen eine mindestens skeptische Haltung gegenüber neuen Veränderungen eingenommen. Die politische Botschaft der gescheiterten Volksinitiative „Eine Schule für alle“ haben wir nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. Unsere zukünftige Schulpolitik muss sich auf genauere Einschätzungen des Rückhalts unserer Reformvorschläge in den Zielgruppen stützen und kritische Stimmen sensibler zur Kenntnis nehmen, um so mehr Vertrauen für unsere Schulpolitik zu schaffen.

Unser Ziel bleibt klar: wir wollen eine neue Schule, die gerecht und leistungsstark ist, die alle Talente fördert und allen Kindern und Jugendlichen und damit unserer Gesellschaft als Ganzes gute Chancen für die Zukunft eröffnet.