Afghanistan ist nicht sicher: Eine Neueinschätzung der Sicherheitslage durch die Bundesregierung ist überfällig und Hamburg muss seine humanitären Handlungsspielräume nutzen

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Die Situation der afghanischen Geflüchteten ist seit vielen Monaten im besonderen Fokus. Die Bundesregierung hat Afghan*innen zu einem Symbol für die Durchsetzung von Abschiebungen gemacht. Der CDU-Innenminister De Maizière behauptet, es gäbe einige sichere Regionen im Land, in die sich ausreisepflichtige Personen nach der Ankunft am Flughafen Kabul begeben könnten. Diese Einschätzung greift deutlich zu kurz. So vertritt der UNHCR die Auffassung, „dass das gesamte Staatsgebiet Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt […] betroffen sind.“ 1 Zwar gäbe es vereinzelt Regionen in denen momentan keine Kampfhandlungen stattfinden würden, allerdings sei die Situation höchst fragil und binnen kürzester Zeit könnten bewaffnete Auseinandersetzungen in vormals friedlichen Gebieten auftreten.

Eine innerstaatliche Einstufung von sicheren und unsicheren Regionen halten wir – ebenso wie der UNHCR deshalb für zu kurz gegriffen2 und lehnen diese ab. Trotz dieser vielen ernstzunehmenden Beschreibungen der Sicherheitslage hält die Bundesregierung weiter an der Auffassung fest, man könne Menschen in bestimmte Regionen Afghanistans zurückführen.

Wir kritisieren als Bündnis 90/Die Grünen, dass sich die bisherige Abschiebepraxis der schwarz-roten Bundesregierung nach Afghanistan durch Härte und politische Inszenierung anstatt durch Humanität auszeichnet. Wir fordern die Bundesregierung dazu auf, ihre Einschätzung der Sicherheitslage unter Berücksichtigung der Erkenntnisse des UNHCR, von NGOs und in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen zu überprüfen und so die Voraussetzungen für ein Ende der derzeitigen Abschiebepolitik zu schaffen. Es muss zudem transparent dargelegt werden, welcher Zustand einer Region oder eines Landes hergestellt sein muss, damit dieses als „sicher“ gelten kann. Ein wichtiges Kriterium muss dabei auch die Stabilität der Sicherheitslage sein. Es ist deswegen ein zentrales Ziel von Bündnis 90/Die Grünen auf der Bundesebene darauf hinzuarbeiten, dass die Sicherheitseinschätzung der Lage in Afghanistan kritisch überprüft wird.

Der Landesvorstand hat sich aufgrund der Sicherheitslage in Afghanistan in seinem Beschluss vom 18.12.2016 dafür ausgesprochen, dass Hamburg sich im Bund dafür einsetzen möge, dass für den Zeitraum von zwei Jahren keine Abschiebungen nach Afghanistan mehr durchgeführt werden.

Die Behörde für Inneres und Sport ist allerdings rechtlich an die Einschätzung der Sicherheitslage des Bundesinnenministeriums (BMI) gebunden. Den Bundesländern ist es gemäß des Aufenthaltsgesetzes in eigener Regie nur möglich, Rückführungen für drei Monate auszusetzen. Alles Weitere bedarf des Einvernehmens mit dem BMI. Die Länder setzen das Ausländerrecht und damit auch vollziehbare Ausreisepflichten durch. Wir wollen, dass Hamburg die Spielräume, die es hat, zugunsten der Menschen aus Afghanistan nutzt. Dazu sind wir mit dem Koalitionspartner weiterhin in intensiven Gesprächen. Unser Ziel ist es, diese Handlungsspielräume auszunutzen.

Hamburg muss seine humanitären Spielräume nutzen

Hamburg beheimatet die größte afghanische Community innerhalb Europas und trägt daher eine besondere Verantwortung. Es gab aufgrund der Aufhebung der Senatorenregelung in der Community eine große Unsicherheit wie die bleiberechtlichen Perspektiven für viele von ihnen sind. Diese Verunsicherungen wurden durch das Vorgehen De Maizières und durch Forderungen aus den Reihen der Union auch noch Einbürgerungen im Zuge des Rechts auf eine doppelte Staatsbürgerschaft in Frage zu stellen, massiv geschürt. Wir haben deswegen intensiv daran gearbeitet deutlich zu machen, dass die allermeisten Afghan*innen eine sichere Aufenthaltsperspektive in Hamburg haben und dies für diese Personengruppen auch transparent wird. Ein zentrales Ergebnis unserer Gespräche ist daher die Erstellung und Veröffentlichung des Papiers der Ausländerbehörde „Hinweise zur aufenthaltsrechtlichen Perspektive der in Hamburg lebenden afghanischen Staatsangehörigen“ (Anhang), das den rechtlichen Rahmen darstellt, den die Behörde für Inneres und Sport zugrunde legt.

Das Papier der Ausländerbehörde macht daher zunächst deutlich, dass bereits eingebürgerte Afghaninnen und Afghanen nicht von Abschiebung bedroht sind. Mit dieser Gruppe angefangen macht das Papier Schritt für Schritt klar, welche Rechte Afghaninnen und Afghanen auf einen Aufenthalt haben bzw. diesen erhalten können. Für den übergroßen Teil der Afghaninnen und Afghanen besteht also kein Anlass zur Sorge, dass sie ihr Leben in Hamburg nicht fortsetzen können.

Besonders hervorzuheben ist, dass auch bei einem negativen Ausgang des Asylverfahrens eine positive Bleibeperspektive besteht, wenn die Betroffenen eine berufliche Ausbildung beginnen. Diese sogenannte „3+2 Regelung“ sieht vor, für die Dauer einer Berufsausbildung und anschließend für zwei weitere Jahre eine Duldung zu erteilen; bei anschließender Weiterbeschäftigung bietet die „3+2 Regelung“ die Möglichkeit eines dauerhaft gesicherten Aufenthalts. Wir begrüßen diese Regelung und auch die damit einhergehende Sicherheit für potentielle Ausbilder*innen und Arbeitgeber*innen. Wir haben schon an verschiedenen Stellen eine sehr weitreichende Auslegung der 3+2 Regelung erreicht, aber wir wollen weiter kämpfen: Wir wollen auch, dass Schüler*innen im Abschlussjahr und aus berufsschulischen Maßnahmen oder in der allgemeinen Ausbildungsvorbereitung nicht von Abschiebung bedroht sind.

Ein wichtiges grünes Anliegen war es schon weit vor Beginn der Abschiebungen durch De Maizière, eine Nachfolgeregelung für die Senatorenregelung zu vereinbaren. Auch dieses ist uns gelungen und gibt damit etwa 90% der Menschen, die bisher unter die Senatorenregelung gefallen sind, eine Aufenthaltserlaubnis bzw. eine Chance, die fehlenden Voraussetzungen noch zu erbringen.

Noch immer leben in Hamburg, bereits seit vielen Jahren Menschen aus Afghanistan mit einem Duldungsstatus aufgrund individueller Abschiebehindernisse. Für diese Menschen wollen wir GRÜNE eine sogenannte „Alt-Fall-Regelung“ erreichen. Anstatt der immer wieder verlängerten Duldung, soll hier eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Wir wollen diesen Menschen damit ermöglichen, richtig und endgültig ankommen zu können.

Durch die beschriebenen Regelungen und die humanitäre Auslegung der rechtlichen Spielräume, ist die Gruppe der Menschen, die aus Hamburg nach Afghanistan abgeschoben werden können sehr klein. Straftäter und alleinstehende Männer ohne Integrationserfolge werden auch künftig aus Hamburg abgeschoben. Aber auch hier gilt: Die nach der Rückführung zu erwartenden Umstände der Betroffenen sollen in den Blick genommen werden. Wir Grüne fordern deshalb auch für diese Fälle eine echte Einzelfallprüfung ein, die alle Aspekte bewertet und wir werden die Fälle und die Prozesse genau im Blick behalten. Insbesondere bestehen wir darauf, dass mit Blick auf die mögliche Zugehörigkeit zu Minderheiten, die in Afghanistan nicht davon ausgehen können unbehelligt zu leben, eine besonderes Augenmerk gelegt und verantwortungsvoll gehandelt wird.

Für uns ist klar, dass nur dann ausreisepflichtige Afghanen aus Hamburg in diesen Fliegern sitzen dürfen, wenn sie in die kleine Gruppe jener Straftäter und alleinstehender Männer fallen, für die es derzeit keine Bleibeperspektive gibt und wenn bei diesen, wie bereits dargestellt, sorgfältige Einzelfallprüfungen stattgefunden haben. Es darf keinen Automatismus dahingehend geben, dass in jedem von De Maizières Fliegern Afghanen aus Hamburg dabei sein müssen. Wir bleiben mit unserem Koalitionspartner weiterhin im Gespräch, um darauf hinzuwirken, dass Afghan*innen in Hamburg frühzeitig die Möglichkeit haben und darin unterstützt werden, Integrationsleistungen zu erbringen. Nur wenn dies möglich ist, können die Menschen auch zielgerichtet ihren Beitrag zu einer Bleibeperspektive leisten.

Wir setzen zudem auf die freiwillige Rückkehr. Insgesamt sind aus Hamburg im Jahr 2016 über 100 Menschen aus Hamburg freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt. Für diesen Weg haben wir GRÜNE uns mit Erfolg eingesetzt; er sollte mit Priorität weiter verfolgt werden. Damit eine freiwillige Rückkehr aber auch tatsächlich den Charakter einer Entscheidung des Betroffenen selbst hat, ist es wichtig, dass eine qualifizierte Rückkehrberatung stattfindet. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass sich die Beratungssituation für die Betroffen in Hamburg noch weiter verbessert. Aber auch die Rückkehrprogramme der Bundesregierung sind noch nicht ausreichend. Wir wollen, dass Hamburg prüft, inwieweit es selbst als Bundesland eine bessere Unterstützung für die Rückkehr leisten kann. Nach Einschätzung des UNHCR ist die wesentliche Bedingung für eine sichere Rückkehr ein ausgeprägtes soziales Netzwerk des Betroffenen am Rückkehrort. Hierauf gilt es in der Beratung besonderes Augenmerk zu legen.

Der Landesausschuss fordert die Bundesregierung auf:

  • Die Sicherheitslage in Afghanistan unter Einbeziehung der Erkenntnisse von UNHCR, NGOs und Hilfsorganisationen neu zu bewerten und

  • nachvollziehbare Entscheidungskriterien für die Einschätzung eines als „sicher“ geltenden Landes vorzulegen, bei der auch die Stabilität der Sicherheitslage als Kriterium Anwendung findet.

Der Landesausschuss fordert Landesvorstand, Bürgerschaftsfraktion und Senator*innen auf:

  • Die Rückkehrprogramme für Geflüchtete aus Afghanistan zu verbessern,

  • in Hamburg die humanitären Spielräume zu nutzen, um möglichst viele Menschen vor Abschiebung zu bewahren,

  • jeden Einzelfall streng zu prüfen,

  • die Hinweise zur aufenthaltsrechtlichen Perspektive aktiv und verständlich in die afghanische Community zu kommunizieren,

  • eine qualifizierte Rückkehrberatung aufzubauen,

  • die 3+2 Regelung möglichst im Sinne der Betroffenen auszulegen und den Anwendungsrahmen auch auf Schüler*innen im Abschlussjahr und berufsschulische oder allgemeine Ausbildungsvorbereitung zu erweitern und

  • eine Altfallregelung zu entwickeln.

1 Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren Dezember 2016, S.2

2 Vgl. ebd. S.1.